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Schuldlos ohne Schuld

Schuldlos ohne Schuld

Titel: Schuldlos ohne Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kjell-Olof Bornemark
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einer Eigenschaft, die dem Totschläger trotz seiner Geduld und Ausdauer fehlt – der Besinnung. Da er derjenige ist, der die Gefahr hervorruft, kann er nicht verstehen, wie sie eine Bedrohung seiner selbst bedeuten soll. Er fürchtet den Angriff nicht, und er rechnet nicht mit den Folgen, falls er keinen Erfolg hat. Für ihn existiert die Zukunft in diesem Augenblick nicht. Nur das Jetzt gilt.
    Manchmal kommt es vor, dass der Jäger und auch die Beute sich verirren. In solchen Situationen kann niemand voraussagen, was geschehen wird. Wenn jemand vom richtigen Weg abgekommen ist, vermindert er unwillkürlich die Wachsamkeit und sucht die Erkennungszeichen, die ihn wieder zurückführen. Der Verirrte weiß, dass er in der Gegenwart Sicherheit finden muss. Für ihn gelten keine Versicherungen oder Versprechen über die Zukunft.
    Ganz selten einmal kann es deshalb vorkommen, dass der Jäger und die Beute sich plötzlich Auge in Auge gegenüberstehen, ohne dass einer von ihnen begreift, wie das geschehen ist. Es ist schwer zu sagen, wer von ihnen zuerst seine Geistesgegenwart zurückgewinnen wird. Für den Schwächeren von ihnen gilt es, die schreckerfüllte Lähmung zu überwinden und unverzüglich unter Aufbietung all seiner Kräfte von der Stelle zu fliehen, auch wenn dies in Panik geschieht. Bei dem anderen, dem verblüfften und deshalb unvorbereiteten Angreifer, bricht der Bann erst dann, wenn er den bittersüßen Geschmack des Blutes im Mund wieder spürt. Für einen von ihnen bedeutet eine solche Begegnung, dass das Erwachen zu spät kommt.
     
    Martin ist draußen auf der Jagd. Es ist das dritte Mal in dieser Woche, dass er das Gebiet aufsucht, das er als sein Jagdfeld ausgewählt hat. Bis jetzt ist das Jagdglück gering gewesen. Er trägt den geladenen Revolver in der Außentasche seiner Jacke. Es kam nicht dazu, dass er sich ein Holster verschaffte.
    Die Straße, breit wie eine Avenue mit je drei Fahrspuren in jeder Richtung, wirkt wie im Schlummer und fast apathisch in der Winterdunkelheit und unter den Schauern körnigen Schnees, die unablässig ihre verdrossenen Angriffe vom Eismeer weit dort im Nordwesten wiederholen.
    Es ist eine verräterische Ruhe, die von dem mutlosen Klappern der Schilder und Regenrinnen begleitet wird.
    Am Tag wimmelt es von Menschen auf dem eisglatten und unzureichend gestreuten Gehwegen, und es kommt oft zu störenden Verkehrsstockungen vor den böse glotzenden roten Ampeln. Dann gehört die Straße den Taxifahrern und den jungen Grünschnäbeln, die Lieferwagen steuern, aber auch in gewisser Weise denen, die in den Bankpalästen, Versicherungsunternehmen oder Buchverlagen arbeiten. Sie alle haben die Straße nur für ganz kurze Zeit geliehen bekommen. Aus den Vorstädten dringt ein Strom geldstrotzender Leute jeden Alters, um in den Geschäften oder Warenhäusern einzukaufen, aber nicht einmal die Geschäftseigentümer, die nachts ihre Schaufenster beleuchten, um so ihre Reviere abzustecken, können Anspruch auf die Straße erheben.
    Erst wenn sich die Dunkelheit herabsenkt, geben sich die wahren Eigentümer zu erkennen. Sie nehmen die Straße mit einer Selbstverständlichkeit in Besitz, um die sie viele beneiden könnten. Seltener treten sie mit großen Gebärden auf. Oft bleiben sie scheue Schatten, flüchtig, geradezu unsichtbar für alle außer ihnen selbst. Manchmal passiert es jedoch, dass sie ihren Hass explodieren lassen, da sie ihre Verzweiflung nicht mehr länger einschließen können. Nur dann durchbrechen sie für einige kurze Augenblicke den Schutzwall, mit dem sich die ursprünglichen Bewohner der Stadt umgeben haben. Sie haben den Wall zum Schutz vor ihrer Angst gebaut, und als Bausteine haben sie ihre Verachtung verwendet. Aber nicht einmal dann, wenn sie endlich sichtbar sind, scheinen die wahren Herren der Straße greifbar zu sein.
    Die Straße war ursprünglich als Paradeplatz gedacht, hat ihre Grandezza aber schon lange verloren, wie es mit allem geschieht, was pompös ist und sich allzu eitel selbst bespiegelt. An einigen Stellen ist die Straße beträchtlich verfallen. Im Osten haben die Stadtplaner und die Bankiers sie in eine sterile Wüstenlandschaft mit gewaltigen Häuserkolossen verwandelt, deren protzige, seelenlose Fassaden all die kleinliche Habgier und verachtungsvolle Machtvollkommenheit widerspiegeln, die sich dahinter verbergen. Sie wird von einem missgestalteten Springbrunnen abgeschlossen, dem es trotz seiner minarettartigen Form nicht gelingt,

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