Schuldlos ohne Schuld
Einschussloch haben. Er kleidet sich in höchster Eile an und stürmt die Treppen hinunter. Mehr als eine halbe Stunde sucht er, ohne etwas zu finden.
11
Die Patience geht nie auf. Martin sitzt den dritten Tag hintereinander und tut nichts anders, als Patience zu legen. Der Revolver liegt neben ihm auf dem Tisch. Er ist geladen.
Draußen ist tiefer Winter. Die Kastanie im Hof krümmt sich unter der Schneelast, und auf dem Balkon steht ein Weihnachtsbaum mit brennenden Lichtern. In einigen Tagen ist Neujahr.
Martin und die Karten spielen ein Fragespiel miteinander. Die Karten bestimmen. Martin sucht Antwort auf eine unausgesprochene Frage. Er glaubt, dass sowohl die Frage wie die Antwort in den Karten verborgen sind. Als endlich die schwarze Pikdame kommt und sich auf den Herzkönig legt, überläuft es ihn kalt. Er ist erhört worden, und er hat nicht geschummelt.
Es ist der Tod, der sich zeigt, und er weiß, dass der ebenso unbarmherzig ist wie das Leben. Er muss also töten. Um sein eigenes Leben zu rechtfertigen, muss er ein anderes nehmen. Martin wehrt sich nicht, er fühlt sich aber überrascht und mehr erstaunt als bestürzt. Die Wahrheit ist, dass er in seinem ganzen Leben nie irgendetwas getötet hat. Ihm fehlt der natürliche Jagd- und Mordinstinkt. Er hat nicht einmal gefischt, da es ihm zuwider ist, den Haken aus dem Fischmaul zu reißen und dann den Fischkopf gegen einen Stein oder die Bootskante zu schlagen. Noch weniger könnte er einem Huhn den Kopf abschlagen. Dagegen ist es denkbar, dass er einen Hasen schießen würde. Mit einem Gewehr in der Hand wächst der Abstand zum Tod. Er wird irgendwie klinisch und unpersönlich. Eine Kugel aus einer Waffe verfremdet den Tod und macht ihn zum technischen Problem. Trotzdem weiß Martin, dass er es abstoßend und vielleicht auch unmöglich finden würde, eine Katze zu töten. Auch wenn er den Revolver verwenden würde. Vermutlich beruht dies darauf, dass er Katzen mag und sie ihn nie abgewiesen haben. Wenn Katzen angegriffen werden, reißen, kratzen und fauchen sie, während sie Wut und Mut anstelle von Angst zeigen. Andererseits spielen sie gern mit ihren Opfern, bevor sie sie töten.
Mit Menschen ist es ganz anders. Menschen können nie ihre Angst verbergen, wenn sie einer tödlichen Bedrohung ausgesetzt sind. Dann pflegt die Maske von ihnen abzufallen, und sie sind zu allen erdenklichen Lügen und Versprechen bereit, wenn sie einen Ausweg suchen. Sie scheuen nicht einmal vor Verrat zurück. Martin hat begriffen, dass der Mensch nur dann die Wahrheit sagt, wenn er glaubt, davon einen Nutzen zu haben. Vor allem liebt er die Wahrheit über andere. Der erfolgreiche Mensch weiß, dass die Lüge fast immer der Wahrheit vorzuziehen ist, aber auch, dass sie nie aufgedeckt werden darf. Deshalb verurteilt er wütend alle, die entlarvt und als einfältige Lügner abgestempelt worden sind.
Martin hat nie jemanden verleumdet. Jedenfalls nicht bewusst. Er verabscheut Klatsch. Es ist die allerhinterhältigste Methode, das Leben eines Menschen zu zerstören. Damit hat er große Erfahrung. Auf der Arbeitsstelle gingen sie hinterrücks gegen ihn vor und woben ein Netz von Lügen, bis es ihnen gelang, dass er den Laufpass bekam. Da stimmten sie voll überein und waren sich ihrer gemeinsamen Lügen bewusst, auf denen das vernichtende Urteil beruhte. Danach begegneten sie ihm mit totalem Schweigen. Er war ganz einfach nicht vorhanden. Dennoch weiß er, dass das Schweigen und die Gleichgültigkeit, die gespielte Gleichgültigkeit, nicht nur die kleinlichen Schwestern der Lüge sind, sondern auch eng verwandt mit der Furcht. Niemand weiß, wozu ein Mensch fähig ist, wenn er für immer ausgestoßen wird und man ihn hindert, sich wieder zu erheben.
Es gibt für Martin kein Zurück. Die anderen haben ihm für immer das Tor verschlossen. Er ist ein Ausgestoßener. Aber in ihrem Gedächtnis muss er als eine latente Drohung vorhanden sein. Wer an seiner Stelle würde sich nicht zu rächen versuchen? War es Angst vor seiner Rache, dass die ihn durch ein Gericht bestrafen und dazu demütigen ließen, in dem man ihn eines Verbrechens anklagte, von dem alle wussten, dass er sich dessen nicht schuldig gemacht hatte?
All das denkt Martin, während er weiter mit den Karten spielt. Er weiß, dass es keine Gerechtigkeit in der Welt gibt, jedenfalls nicht für eine Sorte Mensch, wie er es ist, aber er weiß auch, dass die so genannte Gerechtigkeit nur ein Instrument für die ist, die
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