Schuldlos ohne Schuld
laut mit mir selbst zu reden«, brummt Martin.
»Nie!«, fügt er aggressiv hinzu.
Gleichzeitig schießt eine Blutwelle in sein Gesicht, und er bereut es sofort. Nicht weil er lügt, sondern weil er nicht lernen kann, trotz aller heiligen Gelübde, die er sich gab, den Mund zu halten.
»Nein, nein«, beruhigt ihn der Fremde. »Ich meine es nicht so. Missverstehen Sie mich nicht! Ich rede von mir selbst und bin hierher gekommen, um etwas Gesellschaft zu haben. Möglichst mit anderen Leuten als denen, die ich nur zu gut kenne. Ich hoffe, dass Sie mir das nicht übelnehmen.«
Das klingt fast wie eine Bitte oder wie eine Geste der Versöhnung. Martin seufzt. Jetzt ist es zu spät. Die Falle ist zugeschlagen, und er weiß nicht, wie er sich daraus befreien kann, ohne Verdacht zu erwecken. Natürlich kann sich Martin immer noch erheben und den Tisch unter dem Vorwand verlassen, dass er einen Bekannten entdeckt habe, aber es gibt keine Bekannten, die von ihm entdeckt werden wollen. Es gibt auch eine andere Möglichkeit, das Problem zu lösen. Martin kann aufstehen und gehen, die Kneipe für heute abend verlassen. Niemand wird ihn vermissen. Seines Weges zu gehen ist nie merkwürdig. Die ganze Zeit kommen Leute. So soll es geschehen.
Mit einem einzigen Zug kippt Martin den Schnaps und spült mit einem halben Bier nach.
»Prost«, sagt der Fremde freundlich. »Es gibt viel Gutes, das wir dem Alkohol zu verdanken haben.«
Zugleich nimmt er einen anständigen Schluck aus seinem Glas. Der Schaum bleibt am Bart hängen, und es sieht etwas unbeholfen aus, als er sich den Mund mit dem Handrücken abwischt.
Dann leuchtet es in seinen Augen auf, und er wirkt pfiffig und wohlwollend. Als sei ihm plötzlich eine gute Idee gekommen.
»Ich möchte einen ausgeben«, sagt er hastig, doch so laut, dass der Mann am Nachbartisch sich umdreht.
Nie ist es vorgekommen, dass jemand eine freie Runde abgelehnt hätte. Im Gegenteil passiert es allzu oft, dass einer an die Großzügigkeit seines Nachbarn appelliert.
»Die Wahrheit ist, dass ich gute Gründe habe, heute zu feiern«, fährt der Fremde eilends fort. »Warum sollten wir das nicht gemeinsam machen?«
Martin kann nicht mehr protestieren; der Fremde ist schon mit raschen Schritten zur Bartheke unterwegs. Der Wirt behandelt diesen Mann auf eine andere Weise als seine Stammgäste. Er war schon in jungen Jahren ein weitgereister und erfahrener Mann, der auf allen Weltmeeren segelte. Deshalb hat er sich zu benehmen gelernt, wenn er bessere Leute trifft, und er plaudert höflich mit dem unbekannten Gast, während er gewandt das Bier aus dem Hahn zapft und den Branntwein – gut bemessen – eingießt. Dann verstößt er gegen eines der konsequent befolgten Gesetze der Kneipe. Er sucht nach einem Serviertablett. Das ist früher niemals geschehen, und für einige Augenblicke verbreitet sich ein überraschtes Schweigen im Lokal. Die Überraschung wird noch größer, als der Wirt und der Fremde angeregt plaudernd zu Martins Ecktisch schreiten. Wer feine Ohren hat, könnte auch einiges an anspielungsreichem Geflüster zwischen den übrigen Gästen vernehmen.
Der Wirt stellt das Tablett auf den Tisch, wischt die Tischplatte mit einem Lappen ab, leert den Aschenbecher und reicht dem Fremden dann das Tablett so formvollendet, als wäre er Ober in einem Luxusrestaurant.
»Vielen Dank«, sagt der Gast, ohne erstaunt zu wirken, als wäre es eine Selbstverständlichkeit, bewirtet und beachtet zu werden. Auch Martin weiß sich zu benehmen. Auf die zuvorkommenden Aufforderung des Wirts hin, sich zu bedienen, ergreift er ein Glas und brummt etwas Undeutliches, was man als freundliche Zustimmung auffassen kann. Von den Tischen ringsum wird die Szene mit großäugigen Blicken verfolgt. Etwas später ist kritisches Getuschel zu hören, jedoch nur leise.
Martin ist es zum zweiten Mal an diesem Abend gelungen, die übrige Versammlung in diesem Lokal durch sein Verhalten zu verblüffen. So mancher weiß nicht mehr recht, was er glauben soll.
Als der Wirt sich mit einer leichten Verbeugung zurückzieht, hebt der Fremde sein Schnapsglas.
»Prost!«
Martin zögert. »Worauf trinken wir?«, fragt er, und seine Stimme klingt schon etwas beherzter.
Der Fremde wartet mit der Antwort. Er winkt etwas abwehrend mit der freien Hand, als wolle er die Frage verscheuchen. Dann lächelt er verschmitzt, und seine Augen wirken durchtrieben.
»Das ist ein Geheimnis«, sagt er mit leisem Lachen, »und Geheimnisse
Weitere Kostenlose Bücher