Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schuldlos ohne Schuld

Schuldlos ohne Schuld

Titel: Schuldlos ohne Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kjell-Olof Bornemark
Vom Netzwerk:
einzige, was wichtig ist.
    »Trotzdem ist es sonderbar«, fährt der Fremde nachdenklich fort, als ob er mehr zu sich selbst als zu Martin spräche, »wie viel man an dem Verhalten anderer Menschen ablesen kann, ohne dass sie im geringsten vermuten, sie seien entlarvt. Das Verhalten sagt mehr als alle Worte, die nur dem Verbergen dienen. Wenn Menschen ihre Rollen spielen, weiß derjenige, der sie durchschaut, dass es sich nur um ein Spiel handelt, hinter dem verborgene Absichten liegen. Nicht die Rolle interessiert mich, sondern der Schauspieler dahinter und seine Geheimnisse, die er als privat bezeichnet. Die niemand anderen angehen, weil sonst die Rolle zerstört wäre und der Schauspieler für immer seine Glaubwürdigkeit verlieren würde. Sind wir uns da einig?«
    »Natürlich«, antwortet Martin, aber er denkt dabei nicht an das Rollenspiel.
    Er muss von hier weg. Dieser Kerl ist gefährlich. Er umgarnt mit Worten, und er kriecht einem näher und näher, so dass es schließlich unmöglich sein könnte, irgendetwas zu verbergen. Damit muss Schluss sein. Martin ergreift das Bierglas und trinkt. Es ist noch ein Schluck übrig. Wenn er den getrunken hat, wird er gehen.
    »Sie haben Durst«, sagt der Fremde gutmütig. »Das ist gut. Manchmal kommt es vor, dass man einen Menschen trifft, der kein Theater spielen muss, der sich nicht als wichtiger oder besser ausgeben muss, als er ist. Die meisten lügen lieber, weil sie wissen, dass die Wahrheit gefährlich ist. Ich vertrete die entgegengesetzte Auffassung. Vielleicht mögen mich deshalb so viele nicht.«
    Plötzlich hört Martin zu. Das kennt er. Das ist wahr. Er sieht den anderen mit Augen an, die Verwunderung und zum ersten Mal Sympathie ausdrücken. Widerwillig – da er weiß, dass er sich von diesem Mann freimachen muss – nickt er zur Antwort.
    »Damit haben Sie recht.«
    Der Aufbruch kommt schneller als er ahnt.
    »Alle haben wir etwas Strafbares begangen«, sagt der Fremde, »und auch wenn es uns gelingt, uns vor den Gesetzen zu verbergen – und bei den meisten ist das der Fall –, können wir uns nie der Strafe entziehen. Die Geheimnisse, die wir mit uns herumtragen, die Beunruhigung sind nichts anderes als eine lebenslängliche Strafe. Es gibt Menschen, die leben ihr ganzes Leben mit ständig wiederkehrenden Alpträumen mitten am helllichten Tag. Ein einziges unbedachtes, ahnungsloses Wort, ein einziger missverstandener Satz oder, am schlimmsten von allem, ein wirkliches oder eingebildetes Tuscheln hinter dem Rücken lässt sie vor Angst erstarren. Dann suchen sie langsam Schutz hinter ihren mühsam zurechtgelegten, zumeist einfältigen Rollen. Aber das kommt sie teuer zu stehen. Einige kriegen Magengeschwüre. Andere wagen nachts nicht mehr zu schlafen. Viele begehen Selbstmord. Aber die meisten leben weiter und streben nach Macht und Reichtum. Da ein jeder etwas zu verbergen und viel zu verlieren hat, verwandeln sie sich in erbärmliche Komödianten in einem Spiel, das ebenso sinnlos wie grotesk ist. Dieses Spiel erhält die Gesellschaft in unserem Teil der Welt aufrecht. Nur die, die verrückt genug sind und deshalb als unzurechnungsfähig gelten, haben eine Möglichkeit, der Strafe zu entrinnen.«
    Jetzt ist es genug!
    Alles, was dieser Kerl sagt, ist voller Anspielungen, die nur ein Ziel haben: Martin. Er redet, als wüsste er nicht nur, was geschehen ist, sondern auch, wie es abgelaufen ist. Er ist der erste, der einen Verdacht ausgesprochen hat, auch wenn er ihn hinter einer Menge Worte verbirgt.
    Martin schüttet den Rest des Bieres in sich hinein und steht auf.
    »Ich gehe jetzt«, sagt er unvermittelt.
    Der Fremde schaut ihn an, er scheint überrascht zu sein.
    »Schon?«, sagt er. »Ich hatte vor, Sie noch mal einzuladen.«
    »Nein, nein«, antwortet Martin, und grollt seine Bassstimme so, dass viele sich umdrehen.
    Die ihn von früher kennen, wissen, was geschehen ist, und lächeln einander bedeutungsvoll zu.
    Einen Augenblick später hat Martin die Kneipe verlassen. Er hat sich nicht einmal die Zeit genommen, den Reißverschluss des Parkas hochzuziehen. Noch weniger hat er für das Bier und den Branntwein gedankt, zu denen der Fremde ihn eingeladen hatte.
     
    Es schneit, und der Wind ist schneidend. Martin bleibt unter einer Straßenlaterne stehen und schließt den Parka. Dann beginnt er in den Taschen zu graben, findet aber nicht, was er sucht. Als er sich umdreht, sieht er den Fremden am Eingang der Kneipe stehen. Der Mann winkt ihm zu.

Weitere Kostenlose Bücher