Schuldlos ohne Schuld
vorkommen, dass ihnen jemand eine spöttische Bemerkung nachwirft, aber meistens geschieht das im Scherz und um denen zu imponieren, die gerade zuhören.
Oft haben sie leere Taschen. Dann pflegen sie zu betteln. Nie im Tunnel. Das ist ein schlechter Platz. Dagegen gibt es eine Holzbank nicht weit vom Schnapsladen. Schon von weitem wissen sie, wen sie ansprechen können. Da irren sie selten. In letzter Zeit hat übrigens die neue Fünfkronenmünze das Dasein erhellt.
Mit Martin ist es anders. Er ist Novize auf der Bank. Eigentlich hat er sich nie vorstellen können, dass er hier landen würde. Für ihn stellte die Bank immer die Endstation eines Lebens dar.
Der Alp hat Martin fest im Griff. Jede Nacht reitet er ihn. Er ist die Ursache dafür, dass er hier zusammen mit dem Spatz und Leonard sitzt. So kann er ihn vergessen. Der Alp kommt nachts und zeigt sich in allen erdenklichen Gestalten, aber nie erinnert eine an den Erschossenen. Trotzdem handelt es sich immer um ihn. Diese Augen. Ständig blicken ihn die Augen des Fremden an, des Kerls in der Kneipe. Es sind seine Augen, die Martin verfolgen. Sie bohren und bohren und bohren, und Martin graut vor dem Gedanken, dass sie schließlich finden werden, was sie suchen. Das darf nicht geschehen, und obwohl Martin mit der Kraft der Verzweiflung dagegen kämpft, fürchtet er, dass es vergebens ist.
Die Augen können ebenso plötzlich verschwinden, wie sie auftauchen. Manchmal lauern sie hinter einer Ecke, manchmal verstecken sie sich in einem erfrorenen, entlaubten Baum, wie Elsteraugen. Es ist nie ein Funke des Wiedererkennens in ihnen. Sie starren nur.
Der Alp wechselt oft die Gestalt. Plötzlich kann er einen Karren vor sich herschieben. Dann hat er sich Oivas Gesicht zugelegt, aber es ist nicht ihr Körper, der tanzt, lockt oder droht, sondern eine unförmig aufgequollene Masse mit einem ungeheuren Hintern. Gefährliche Geheimnisse sind im Karren verborgen, und wenn Martin die Zeitungen zerreißt, die darin liegen, um die Wahrheit zu verbergen, und endlich unten angelangt ist, begegnen ihm die Augen des Fremden. Sie starren ihn unbeweglich wie Raubtieraugen an. Es sind dieselben Augen, die aus Oivas Gesicht leuchten. Sie sind überall. Wie flimmernde Sporen fliegen sie ihm auf Schmetterlingsflügeln entgegen und drohen in ihn einzudringen, um ihn zu vernichten. Wenn sie so nahe sind, dass sie ihn fast blenden, beginnt Martin verzweifelt um sich zu schlagen. Dann schreit er. In diesem Augenblick wacht er auf, mit kaltem Schweiß und klopfendem Herzen wie nach einem Dauerlauf. Er ist völlig erschöpft. Die Tage bringen wenig Erholung. Der Alp verfolgt ihn auch da, aber im Tageslicht ist er unsichtbar. Martin lebt, als wäre er gelähmt. Er hat jeden Elan verloren und schafft es nicht mehr, etwas Vernünftiges zu unternehmen. Die Wohnung beginnt zu verkommen, und die Mahlzeiten lässt er schleifen. Dagegen trinkt er. Am allerschlimmsten ist die Einsamkeit, die Tatsache, dass er niemanden hat, mit dem er reden kann.
Martin hat mit den Ladendiebstählen aufgehört. Er wagt es nicht mehr. Er fürchtet die beobachtenden Augen des Fremden in den verspiegelten Fenstern der Geschäfte. Er geht auch nicht mehr in die Kneipe. Dort kann der Fremde sitzen und auf ihn warten. Es gibt nichts Sinnvolles mehr für ihn zu unternehmen.
Martin will auch nicht wissen, was draußen passiert. Deshalb hat er mit dem Zeitunglesen aufgehört. Er verzichtet auf das Fernsehen und hört nicht Radio. Am Tag steht er lange am Küchenfenster und schaut auf die Straße, um herauszufinden, ob jemand ihn beobachtet.
Manchmal bildet er sich ein, dass er nicht allein in der Wohnung ist. Oft glaubt er, im Nebenzimmer Geräusche zu hören. Er zuckt bei dem geringsten Knacken zusammen. Mindestens fünfmal am Tag und manchmal wenn er aufwacht in der Nacht schaut er durch das Schlüsselloch der Wohnungstür. Er will sich vergewissern, dass niemand draußen steht und auf ihn wartet. Wenn er die Wohnung verlässt, schleicht er die Treppen hinunter, und in der Stadt bleibt er vor jedem fünften Schaufenster stehen, um sicher zu sein, dass ihn niemand beschattet.
Der Fremde geht oft unten auf der Straße vorbei. Zweimal hat Martin versteckt hinter der Küchengardine gestanden und beobachtet, wie der andere mit raschen Schritten kam, um ohne ersichtlichen Grund auf dem Gehweg plötzlich stehen zu bleiben. Ohne Zweifel prüfte er die Hausfassade ihm gegenüber. Was interessiert ihn? In klaren Momenten
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