Schuldlos ohne Schuld
versucht Martin sich selbst zu überzeugen, dass es sich um reine Zufälle handelt. Der Mann da unten braucht nicht das zu sein, was Martin befürchtet. Möglicherweise ist er gerade eingezogen und wohnt irgendwo in der Nähe. Vielleicht ist er Architekt und hat ein hübsches Gebäudedetail entdeckt. Doch dann melden sich wieder nagende Zweifel: Warum steht er immer an derselben Stelle? Warum gafft er beharrlich zu Martins Fenster hinauf?
Gegen den Alp und die Unruhe gibt es nicht viel, was hilft, wenn man zugelassen hat, dass er die Oberhand gewinnt. Martin versucht es mit Alkohol. Der betäubt, jedenfalls vorübergehend. Das Problem ist nur, dass er Geld kostet und dass Martin noch nie so arm gewesen ist wie jetzt. Heute Morgen besaß er dreihundert Kronen. Jetzt steckt ein einsamer Hunderter in seiner Brieftasche. Für die Differenz hat er Alkohol gekauft. Es ist ein geringer Trost, dass er Anfang nächster Woche seine Rente bekommt.
Es ist nicht mehr viel in den Flaschen. Sowohl der Spatz als auch Leonard sorgen für eine gerechte Verteilung. Sie haben mit keiner einzigen Öre einen Beitrag geleistet, und keiner von ihnen hat die Sache zur Diskussion gestellt. Trotzdem bereut Martin es nicht. Er war gezwungen, jemanden zu finden, um mit ihm zu reden, und als sie ihm von der Steinbank zuwinkten und beide überrascht und geschmeichelt zur Seite rückten, um ihm zwischen sich einen Platz frei zu machen, war er in gewisser Weise erleichtert. Allein hielt er es einfach nicht mehr aus, und dies war ein Weg, dem Schweigen zu entfliehen.
Der Spatz hat etwas Verschlagenes in den Blick bekommen. Erst wischt er sich mit der Handfläche umständlich den Mund ab. Dann hustet er, um die Kehle zu säubern, während er die Schnapsflasche mit einer höflichen Geste an Martin zurückgibt.
»Prima Ware«, sagte der Spatz. »Das müssen wir wiederholen. Auf unsere Kosten.«
Leonard brummt etwas, das wie Zustimmung klingt und Martin kann nicht umhin, sich zu fragen, wie das gehen soll. Er hat noch immer Sinn für einen guten Scherz. Plötzlich geht ihm auf, wie lange es her ist, seit er zum letzten Mal richtig gelacht hat.
»Kennst du nicht jemanden«, beginnt der Spatz vorsichtig, »der … du verstehst … wir haben keinen Platz zum Schlafen, und in der Nacht wird es eine Inflation von Minusgraden geben.«
»Verdammt kühl«, pflichtet Leonard bei.
»Neee …«, antwortet Martin und zieht die Wörter in die Länge. »Das glaube ich nicht, dass ich so jemanden kenne.«
Jemand, dessen Alltag Entbehrung heißt, der vom Wohlwollen seiner Mitmenschen lebt – so jemand weiß auch das geringste Zögern eines anderen in ein Ja zu seinen Gunsten zu verwandeln.
»Du, sag mal … könntest dir nicht vorstellen, uns bei dir übernachten zu lassen?«
Als Martin nicht sofort antwortet, sieht der Spatz seine Chance und hakt sofort nach. Auch Leonard zeigt Interesse.
»Nur für eine einzige Nacht«, sagt der Spatz hastig.
»Wir können auf dem Boden schlafen. Das sind wir gewohnt.«
Martin denkt nach. Er hat ja entschieden, dass seine Wohnung für jeden anderen Tabu sein muss. Aber für die beiden da? Was sollten diese Waschlappen anstellen können? Vielleicht könnte er ein einziges Mal ausschlafen, da er weiß, dass sich andere Menschen in der Wohnung befinden und dass sie ungefährlich sind. Leute, vor denen er keine Angst zu haben braucht.
»Ich weiß nicht«, sagt er zögernd. »Die Nachbarn sind sehr lästig. Sie versuchen die ganze Zeit, mich aus der Wohnung zu kriegen.«
Das ist ein halbes Zugeständnis.
»Wir werden still wie die Mäuse sein«, sagt der Spatz eifrig. »Du hast keine Ahnung, wie ruhig wir sein können.«
»Der Spatz schnarcht nicht einmal«, sagt Leonard, als sei das ein entscheidendes Argument.
Martin antwortet nicht. Er sitzt da und brummt vor sich hin, und die anderen warten ab. Wer an das Wohlergehen des anderen denkt, den sollte man nicht stören, wenn man nicht das Gegenteil erreichen will.
Plötzlich kommt Martin eine Idee. Sie ist gemein. Im Gegensatz zu diesen beiden ist er ein Riese. Sie wissen das nur nicht, und er hat auch nicht vor, ihnen zu sagen, warum. Er wird ihnen beweisen, dass er nicht so harmlos ist, wie sie glauben. Außerdem haben sie ihm seinen Schnaps ausgetrunken, und er weiß, wenn die Nacht sich nähert, wird der Alkohol verdunstet sein und der Alp wieder die Oberhand gewonnen haben.
»Unter einer Bedingung«, sagt Martin.
»Lass hören!«
»Dass ihr eine ganze
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