Schuldlos ohne Schuld
fühlt keine Freude, als er die Waren im Kühlschrank verstaut.
Dann versucht er, mit seinen Gedanken zurechtzukommen. Er stellt sich ans Küchenfenster und sieht auf die Straße. Bald erkennt er den Fremden, der auf dem gegenüberliegenden Trottoir vorübergeht. Martin zuckt zusammen. Dann ist er fast sicher, dass der andere kurz stehenbleibt und forschend zu Martins Fenster hochschaut. Der Kerl weiß, wo Martin wohnt. Es kann keine andere Erklärung geben.
Die Tränen brechen hervor. Martin kann es nicht verhindern; er fühlt sich verlassen und vernichtet. Alles ist gegen ihn. Es gibt keine Gerechtigkeit hier auf Erden. Nicht ein einziger Mensch steht auf seiner Seite. Am liebsten würde er sich jemandem anvertrauen. Seinem Vater? Nein. Auch nicht der Mutter. Aber der Tante. Martin bittet um Verzeihung, aber er weiß, dass sie ihm verweigert werden wird.
Es gibt keinen Trost. Auch keine Rettung. Sie sind ihm auf der Spur. Der Fremde verfolgt ihn, und der Fremde weiß Bescheid.
Verwirrt und verzweifelt, ohne noch zu wissen, was er tut, wirft er sich halbnackt aufs Bett. Dort bleibt er mehrere Stunden liegen. Er windet sich und stöhnt, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, unfähig zu beten, weil er nicht weiß, zu wem er beten soll. Das einzige, was er weiß, ist, dass er nichts zu erhoffen hat.
18
»Gösta hat sich erwürgt. Mit dem Gürtel. Nicht viele kennen heute diese Technik.«
»Nein.«
»Gösta war technisch sehr begabt. Einmal sagte er, dass er Ingenieur studiert hätte.«
»Zahnarzt.«
»Das ist jetzt ohne Bedeutung, und wir werden es wohl nie erfahren. Ingenieur oder Zahnarzt.«
»Das spielt keine Rolle.«
»Haben sie ihm nicht die Approbation entzogen?«
»Er hatte keine.«
»Aber …?«
»Er hat oben in Norrland eine Praxis aufgemacht, bevor er fertig war. Nannte sich Zahnarzt und alles. Da haben sie ihn eingelocht. Er konnte nie fertig studieren.«
So war das.
Im Tunnel unter dem Bahnhof gibt es eine Steinbank, die eigentlich dafür gedacht ist, dass die Alten und die Behinderten eine Möglichkeit haben, sich beim Spazierengehen im Verbindungsgang auszuruhen. Die Stadtplaner haben wirklich merkwürdige Ideen. Auf dieser Bank sitzen sie.
Der Spatz, Leonard und Martin.
Meistens ist es der Spatz, der redet. Seine Stimme ist mal heiser, mal piepsend, aber nie ungehobelt. Manchmal wartet der Spatz auf einen knappen Kommentar von Leonard. Wenn Leonard etwas zu sagen hat, tut er es in knappen Worten. Er ist nie besonders gesprächig gewesen.
Die beiden Flaschen Wein und die halbe Flasche Schnaps, die sie abwechselnd kreisen lassen, hat Martin mitgebracht.
Das Gerücht ist auch bis zu ihm vorgedrungen, dass der Spatz einmal Werbechef eines größeren Unternehmens gewesen sei, dass er sich aber um Amt und Würden gesoffen habe. Das geschah vor sehr langer Zeit, und der Spatz will nicht gern daran erinnert werden.
Sein ständiger Redefluss wird nur durchs Husten unterbrochen. Bald wird er den kleinen Rest herausgehustet haben, der von seinen Lungen übrig ist. Dann ist es aus mit dem Spatz. Das weiß er selbst, und die beiden anderen ebenfalls.
»Wer von euch hat ihn gefunden?«
Martin hat die Frage gestellt.
»Ich war es«, antwortet Leonard. »Im Badezimmer. Ich musste pinkeln.«
Das ist eine direkte Erklärung, und Leonard ist offensichtlich der Meinung, dass sie befriedigend sein sollte.
»Wir haben ja da gepennt«, erklärte der Spatz bereitwillig die näheren Umstände. »Nicht jede Nacht, aber manchmal. Gösta konnte ziemlich launisch sein, und wir wussten nie, ob er uns reinlassen würde. Das hing davon ab, wieviel und was er getrunken hatte.«
»Es gab nie Ärger, wenn er Whisky trank«, sagte Leonard.
»Nie bei Whisky. Wenn er nüchtern war, konnte er dagegen richtig böse sein.«
So ist das mit dem Alkohol. Einige haben ein schlechtes Biergemüt. Bei anderen ist der Verstand im Eimer, wenn sie herumlaufen und nach Alkohol gieren.
»Schlag halb zwölf ging Gösta in die Kneipe«, fährt der Spatz fort. »Auf die Minute. Da waren auch wir gezwungen, die Wohnung zu verlassen. Obwohl wir nicht in die Kneipe mitkamen. Wir haben Lokalverbot auf Lebenszeit.«
»Jeder muss sich um sich selbst kümmern«, sagt Leonard. »So hat er es ausgedrückt.«
»Gösta durfte jederzeit in die Kneipe gehen«, piepst der Spatz neidisch. »Überleg mal, wie viel Geld er da ausgegeben hat. Schnaps und Bier kosten mindestens viermal soviel wie im staatlichen Alkoholladen. Das war
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