Schuldlos ohne Schuld
Geldverschwendung. Es reichte auch nicht. Das Geld meine ich. Er war mit der Miete in Rückstand. Fast ein halbes Jahr. Der Eigentümer wollte ihn rauswerfen, aber die vom Sozialamt spielten zuerst nicht mit. Dann gaben auch sie auf. Vielleicht hat er es deshalb getan.«
»Das glaube ich nicht«, sagt Leonard.
»Was meinst du denn?«, fragt Martin.
»Er war müde geworden«, antwortet Leonard. »Für immer.«
»Wodurch denn müde?«
Da lacht Leonard, und das ist ein seltenes Ereignis. Er hat eine Lücke im Unterkiefer. Deshalb sieht das Lächeln richtig bissig aus.
»Durch das Leben. Wodurch sonst?«
Sie sitzen eine Weile schweigend da und denken nach. Es gibt eine Müdigkeit, die keiner unbegrenzt aushalten kann. Der Spatz und Leonard kennen sie, und Martin glaubt, dass er begreift. Auch er hat sich in den letzten Tagen sehr müde gefühlt.
Sogar der Spatz hält den Mund; auf Martin wirkt das Schweigen unbehaglich. Er will, dass die Unterhaltung in Gang bleibt. Sonst beschleichen ihn sehr unangenehme Gedanken, von denen er nichts wissen will.
»Wie seid ihr rein gekommen?«, fragt Martin. »Ich meine, wenn ihr keinen Schlüssel hattet.«
Es ist der Spatz, der antwortet.
»Gösta rechnete wohl damit, dass wir wie gewohnt kommen würden. Vielleicht dachte er auch, dass es das Beste wäre, wenn wir ihn fänden. In gewisser Hinsicht gab es niemanden, der ihm näher stand.«
»Hatte er etwas geschrieben?«
»Warum sollte er das tun? Es gab nichts zu erklären, und er wusste, dass wir verstehen würden. Er hatte zwei Hunderter auf den Küchentisch gelegt. Das war nett.«
»Das beweist, was er von uns hielt«, sagt Leonard.
»Ihr habt sie mitgenommen?«, fragt Martin.
»Natürlich.«
Sie sitzen da und denken darüber nach, wie gut es ist, Freunde zu haben, auf die man sich verlassen kann, die auch über den Tod hinaus für einen sorgen. Nicht allen sind solche Freunde beschieden.
»Ich glaube, dass er nüchtern war, als er es getan hat«, sagt Leonard leise.
Es liegt Wärme in seiner Stimme. Dann schluckt er und schnüffelt etwas. Der Spatz nickt zustimmend.
»Sonst hätte er das nicht geschafft.«
Alle drei begreifen, dass es eine komplizierte Sache ist, sich mit Hilfe eines Gürtels umzubringen. Das erfordert sorgfältige Vorbereitung, und man muss wissen, was man will. Etwas ganz anderes ist, an seinem eigenen Erbrochenen zu ersticken. Obwohl es eigentlich keinen Unterschied macht.
»Habt ihr es der Polizei gemeldet?«, fragt Martin.
»Ich war es«, antwortet der Spatz. »Von einer Telefonzelle. Ich hab’ nur gesagt, dass ein Toter im Badezimmer liegt, und dann die Adresse angegeben. Danach hab’ ich aufgelegt.«
»Über eine Stunde«, grunzt Leonard und spuckt den Kautabak aus. »Die brauchten über eine Stunde, um dorthin zu fahren.«
Man hört es ihm an, dass er sich über die Art der Polizei, diese Angelegenheit zu behandeln, ärgert.
»Wir haben auf der anderen Straßenseite gewartet«, fährt er fort. »Wir wollten sicher sein, dass sich jemand um ihn kümmert. Es war saukalt draußen.«
»Kam ein Krankenwagen?«
»Warum denn?«
Der Spatz grinst.
»Für solche wie uns gibt es keinen Krankenwagen«, sagt er. »Am wenigsten, wenn wir aufgehört haben zu atmen. Da müssen wir uns mit der Schwarzen Marie begnügen, diesem Leichenwagen, der in der Stadt herumfährt und jede Nacht die Toten einsammelt.«
»Sie brachten ihn in die Gerichtsmedizin«, sagt Leonard feierlich, als wolle er betonen, dass die Behörden Göstas Tod schließlich doch ernst nahmen.
»Dort schnitten sie ihn auf.«
»Ein Ende, das die meisten von uns erwartet. Manchmal wirkt es so, als sei es wichtiger zu wissen, woran ein Mensch gestorben ist, als ihn am Leben zu erhalten.«
»Wart ihr auf der Beerdigung?«, fragt Martin.
»Nein«, antwortet der Spatz. »Wir wurden nicht eingeladen.«
Ein gleichmäßiger Menschenstrom passiert den Tunnel in beide Richtungen. Zu dieser Tageszeit sind es meistens Frauen, die sich mit Plastiktüten auf dem Heimweg befinden. Die eine oder andere schiebt einen Kinderwagen vor sich her. Im Allgemeinen wenden die Frauen ihre Blicke ab und beschleunigen, teils aus Angst, teil aus Scham, den Schritt, wenn sie die drei Männer auf der Steinbank mit ihren Flaschen sehen. Leonard und der Spatz kümmern sich nicht mehr darum, was andere Menschen von ihnen halten. Sie haben nichts mehr zu verlieren. Außerdem wissen sie, dass sie meistens für unsichtbar gehalten werden. Zwar kann es
Weitere Kostenlose Bücher