Schuldlos ohne Schuld
anrufen und sich beschweren. Andere rennen zum Arzt, und es gibt die Leserbriefschreiber. Die meisten Beschwerden, die der Verwalter zu hören bekommt, drehen sich um Lärm und Streit, um Rausch und Schlägerei. So etwas muss man hinnehmen in diesem hellhörigen Zeiten mit ihrem einfältigen Diskogedröhn die Nächte hindurch und den kaputten Ehen. Vielleicht war es immer so. Der einzige Unterschied ist, dass die Wände heutzutage dünner sind als früher.
Heute Morgen brachte die Frau eine Behauptung vor, die, wenn sie sich als wahr erwies, als eine ernste Beschwerde aufzufassen war und der er nachgehen musste. Wenn sie sich als falsch erwies, hätte er endlich eine Chance, ihr den Mund zu stopfen.
»Er hat ein offenes Hotel«, behauptet die Frau. »Für Strolche und anderes hergelaufenes Gesindel. Es ist ein ewiges Kommen und Gehen auf der Treppe. Ein anständiger Mensch wagt sich nicht hinaus. Darf das wirklich so sein?«
Niemand kann einem verbieten, Gäste in der Wohnung zu haben, nicht einmal wenn sie über Nacht bleiben oder Randgruppen der Gesellschaft anzugehören scheinen. Es ist aber eine ganz andere Sache, Zimmer ohne Genehmigung des Verwalters zu vermieten. Nicht, dass er glaubt, es könnte wahr sein. Außerdem wäre es schwer zu beweisen. Aber er muss die Angelegenheit prüfen.
Es ist schade, dass der Mann nicht öffnet. Soweit der Verwalter sich erinnern kann, sind sie sich nur ein einziges Mal begegnet, als Mieterwechsel war. Er hat nicht die geringste Erinnerung an den anderen. Bevor der Verwalter sein Büro verließ, überprüfte er die Mieteingänge. Es gab keine einzige Bemerkung bei diesem Mieter.
»Benutzen Sie den Generalschlüssel!«
Sie klingt wie ein piepsiger Unteroffizier auf einem Kasernenhof. Der Verwalter hat seine Zweifel an der Rechtmäßigkeit seines Vorhabens, aber es bleibt ihm kaum eine Wahl. Der Generalschlüssel steckt in seiner Westentasche, und im selben Augenblick, in dem er ihn ins Schloss schiebt, hört er eine brummende Stimme aus der Wohnung.
»Wer zum Teufel ist da?«
Der Kerl ist also tatsächlich zu Hause. Vielleicht lag er im Bett und schlief, oder er war im Badezimmer.
»Hier ist der Verwalter.«
Einen Augenblick ist es völlig still, und als die Stimme wiederkommt, ist sie schwächer und nicht mehr so forsch.
»Was wollen Sie?«
»Es geht um eine Inspektion«, antwortet der Verwalter, ohne genau zu wissen, wie er vorgehen soll.
Dann glaubt er zu hören, dass der Mann da drin etwas sagt, aber das ist an jemand anderen gerichtet und nicht an sie. Er ist also nicht allein.
»Machen Sie jetzt auf!«, sagt der Verwalter und versucht entschlossener zu klingen, als er sich fühlt. »Es gibt keinen Grund, sich zu sträuben.«
Der Verwalter beißt sich auf die Lippe. Das war nicht besonders schlau. Es kann als eine Drohung aufgefasst werden. Er darf den Mann nicht misstrauischer machen, als er schon ist. Dann wird er sich weigern zu öffnen, und in einem solchen Fall bleibt nur ein zeitraubendes Verfahren mit allerhand hingezogenen Behörden, ein Weg, den der Verwalter mit allen Mitteln vermeiden will.
»Es dauert nur eine Minute«, fügt er deshalb hastig hinzu und versucht freundlich und überzeugend zu klingen.
Die Frau ist ruhig. Sie hat Schutz hinter dem Rücken des Verwalters gesucht, schaut aber immer wider über seine Schulter. Möglicherweise begreift sie, dass es für sie am besten ist, den Mund nicht aufzumachen.
Nichts geschieht. Der Verwalter seufzt und will schon fast aufgeben. Da hören sie, wie die Verriegelung herumgedreht wird, und treten beide einen Schritt zurück, als sich die Tür öffnet.
Martin steht barfuß und halb angezogen vor ihnen. Er trägt ein ausgefranstes Unterhemd und rote lange Unterhosen. Das Haar ist ungekämmt, die Bartstoppeln sind mehrere Tage alt. Er wirkt verwirrt, aber es ist unklar, ob er betrunken oder verrückt ist.
Martin zwinkert und blinzelt gewaltig mit den Augen, als fiele es ihm schwer, die Wirklichkeit in den Griff zu bekommen. Dann erkennt er die Nachbarin hinter dem Rücken des Verwalters und erstarrt. Mit einem Schlag ist er bei Sinnen.
»Was hat sie hier zu schaffen?«, brüllt er und streckt drohend seine kräftige Faust vor. Sie berührt fast das Gesicht des Verwalters, der zurückzuckt. Aber nicht er irritiert Martin, sondern die Frau.
»Hau ab!«, sagt er, und die Nachbarin tritt einige Schritte zurück, aber mehr aus Überraschung als aus Angst. Böse ist sie, aber feige ist sie nie
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