Schule versagt
las, war ich sehr bewegt und konnte die tiefe Befriedigung verstehen, die ich, neben der Erschöpfung, am Ende der Learning-by-Doing-Woche nach fünf Tagen ununterbrochener Konzentration und wirklicher Aufmerksamkeit empfunden hatte.
EVA war von Anfang an ein offenes Konzept für mich. Die Offenheit bestand darin, dass ich mir vorgenommen hatte, für die Interessen, für Impulse und Reaktionen meiner Schüler aufmerksam zu sein und darauf in Absprache mit ihnen zu reagieren. Es sollte einen flexiblen Umgang mit dem Projekt geben, eine funktionale »flexible changelessness« 1 . Ich wollte Aufmerksamkeit und Zuhören an die Stelle von Dogmen setzen. Ich hatte keine Ahnung, ob das alles funktionieren würde. Aber der Umgang mit meinem Sohn, seine Erfahrungen in der Schule, meine Erlebnisse und Erkenntnisse im Referendariat und in der Schule mit Eltern, Kollegen und Vorgesetzten hatten mich intuitiv auf diesen Weg setzen lassen. Mich hatte immer die bürokratische Starrheit dieses Systemapparates gestört, dem andere so viel abgewannen. Aberich wollte keine Sicherheit. Ich wollte etwas Neues versuchen und etwas Kreatives tun. Ich wollte das Wachstum derer sehen, die mir anvertraut waren. Das war meine Eingangsmotivation.
Wie bei allen anderen Gruppen zeigten sich in den ersten Unterrichtswochen die mitgebrachten individuellen Dispositionen deutlicher und ebenso pubertäre Verhaltensweisen wie Verweigerung, Trotz, herablassendes Verhalten, Ignoranz, zur Schau gestelltes Desinteresse – das Übliche. Als wir begannen, hatten wir den hübsch ausgestalteten Fachraum noch nicht und wanderten mit unseren Unterrichtsstunden durch die Schule. In unterschiedlichen Räumen saßen wir zusammen, und ich musste erfahren, wieder einmal erfahren, in welcher Weise sozialisiert unsere Schüler bei uns ankamen. Es gibt immer einige in der Klasse, die, oft auch weil sie älter sind als der Durchschnitt, relativ reife, vernünftige Menschen sind. Ihr Problem ist häufig, dass die Kollegen sie nicht als solche behandeln. Die Mehrheit der Schüler dieser Altersstufen ist laut, unreif, undiszipliniert und oft auch unmotiviert, sich auf Lernprozesse einzulassen. Vorausgegangene Schulerfahrungen wirken hier nachhaltig. Inzwischen war ich darauf eingestellt. Als wir die erste Kurzgeschichte besprachen, bzw. es versuchten, stellte es sich heraus, dass die Hälfte der Klasse die Sci-Fi-Geschichte erst gar nicht gelesen hatte. Auf meinen Anspruch, dass es selbstverständlich sei, vorbereitet in den Unterricht zu kommen, reagierten einige Schüler bockig, andere gleichgültig, einige betroffen. Auch das hatte ich immer wieder erlebt. Die Haltung des »Was willst du eigentlich?!« in Bezug auf ihre Lehrer brachten die ehemaligen Real-, Gesamt- und Gymnasialschüler einfach mit. Sie kannten es nicht anders. So traurig das war, ich musste dort ansetzen, mir blieb keine Wahl. Bildlich gesprochen waren wir tatsächlich im Keller des EV A-Hauses , mit allen dort angesiedelten Defiziten.
Selbstverständlich bestand ich darauf, dass die Kurzgeschichte gelesen werden müsse. Und sie musste analysiert werden. Auch das kannten meine neuen Schüler nicht. Im bisherigen Deutschunterricht hatte man spontan irgendetwas geäußert, notfalls fantasiert in einer Art permanentem Brainstorming: »Was fällt mir denn noch dazu ein? Ich muss mal was sagen, sonst krieg ich keine gute Note!« Von ernsthafter Arbeit keine Spur. Meist warensie damit gut gefahren und sahen keinen Anlass, ihr Verhalten zu ändern. Bis ich kam. Für einige wurde ich zum Reibungspunkt in dieser Zeit. Ich war diejenige, die sie aus ihren Illusionen riss und sie zwang, sich einer neuen Realität zu stellen. Alle mussten die Geschichte lesen, alle erfuhren zum ersten Mal, welcher Mittel es bedarf, um sie wirklich zu verstehen und vor allem für sich selbst etwas daraus zu ziehen, was mehr ist als bloßer abgehakter Unterrichtsstoff. Ich erinnere mich noch genau: Es ging um den Homo Technicus, den automatisierten Menschen. Die Geschichte war in die Zukunft verlegt, aber wir fanden am Ende, dass sie nicht weit weg von uns war. Homo Technicus war uns erschreckend nahe in seiner reaktiven, passiven Art, die gleichzeitig auf die sofortige und vollständige Befriedigung seiner vermeintlichen Bedürfnisse ausgerichtet war. Seine wirklichen Bedürfnisse kannte er nicht. Das war der erste Schritt – zum beharrlichen, systematischen, gemeinsam als sinnvoll erachteten Arbeiten, zum Erlernen von
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