Schule versagt
insgesamt ging von 11.932 im Jahr 2000 auf 4508 im Jahr 2007 zurück. 7 Hier stellt sich, angesichts der oben genannten Zahlen, zunächst die Frage, warum nach Einführung der Abschläge plötzlich viel mehr Lehrer (noch) diensttauglich waren als vor ihrer Einführung. Hat hier eine wundersame Heilung stattgefunden? Und immer noch, trotz erheblich gesunkener vorzeitiger Abgänge, kosten die Frühpensionierungen die Steuerzahler sicher eine Menge Geld.
Ob das eine Investition ist, die sich rechnet, sei dahingestellt. Kinder zu mögen, sie fördern zu wollen und alles Lehrermögliche für die Weiter- und Persönlichkeitsentwicklung jedes Einzelnen tun zu wollen, d. h. pädagogische Interessen, kamen, zumindest als Hauptmotivation, nach meiner Beobachtung so gut wie gar nicht vor. Einige der jungen Leute nahmen erhebliche Wege in Kauf, um die Ausbildung beginnen zu können, oder hatten sich ins Referendariat hineingeklagt. Den meisten allerdings war es wiemir selbst ergangen: Bereits kurz nach der Bewerbung erhielten sie die Zusage und konnten wenig später anfangen. Was trieb sie an, Lehrer zu werden? Sicherheit war ein häufiger Grund; auch wenn das selten explizit geäußert wurde. Aber in persönlichen Gesprächen merkte ich schnell, dass die Lebensplanung dieser jungen Menschen, von denen mir viele in Bezug auf ihre Sicherheitsorientierung älter vorkamen als ich selbst, auf genau diesen zentralen Wert ausgerichtet war. Und dass diese Zielvorstellung in merkwürdigem Gegensatz zu ihrer Orientierungs- und Verhaltensunsicherheit – zumindest zu Beginn ihrer Ausbildung – stand. Die meisten wollten gern oder unbedingt in der Stadt bzw. im Bundesland bleiben. Weil nicht klar war, wer hier noch verbeamtet werden würde und wann, war das ein Unsicherheitsfaktor, den einige durch eine geschickte Fächerwahl ausglichen. Latein und Mädchen-Sport bedeutete eine fast hundertprozentige Einstellungsgarantie, Mathematik und Naturwissenschaften waren auch nicht schlecht. Es gab Fächerrangfolgen, und meine beiden Fächer, Deutsch und Politische Wissenschaft (PW), rangierten ganz unten auf der Einstellungschancenskala. Der sichere Arbeitsplatz nach dem Studium stand hoch im Kurs, und diese Sicherheit sollte bereits im Referendariat beginnen. Manchen der jungen Leute wurde auch von ihren Eltern der Lehrerberuf nahegelegt bzw. aufgezwungen. Einem Mitreferendar war z. B. sein Kunst-Studium von den Eltern nur unter der Bedingung finanziert worden, dass er die brotlose Kunst mit einem sicheren Lehrerjob verband. Ein weiterer Anfänger, etwas, aber nicht wesentlich älter als die anderen, hatte bereits vier Kinder, war streng katholisch und brauchte eine sichere Zukunft.
Die junge Referendarin, die mit mir derselben Schule zugeteilt war, schloss sich zunächst eng an mich an. Ihre Erwartung war, es mit mir gemeinsam durchzustehen. Sie folgte den Anweisungen ihrer Seminarleiter hundertprozentig. Als ich sie einmal fragte, warum sie das so unhinterfragt tue, antwortete sie: »Wenn die das so haben wollen, was soll ich denn machen?« Damit meinte sie die Konzeption und den Ablauf ihres Unterrichts genauso wie die Vorträge, die wir in den Seminaren zu diesem oder jenem didaktischen oder methodischen Problem halten mussten. Sie war fleißig, pünktlich und vollkommen unkritisch. Sie wollteunbedingt eine gute, besser eine sehr gute Prüfung ablegen, um zeitnah eingestellt zu werden. Diesem Ziel ordnete sie alles unter. Es war ihr egal, was sie lehrte, den Schülern vermittelte oder auch nicht. Wichtig waren die Noten, die bis auf die zweite Stelle hinter dem Komma über Einstellung oder Nichteinstellung entschieden. Ein nettes Mädchen; aber die Vorstellung, dass mein Sohn bei ihr Unterricht gehabt hätte, gefiel mir nicht. Es ging ihr wie vielen im schulpraktischen Seminar: Sie wurde, je länger sie durch diese Mühle gedreht wurde, ein bisschen wie die Borg, halb Mensch, halb Maschine (bei manchen überwog der Maschinen-, bei manchen der menschliche Anteil), geeicht auf Pädagogik-Gurus wie z. B. Hilbert Meyer 8 – den absoluten Favoriten Frau B.-K.s –, sowie die Wünsche der jeweiligen Fachseminarleiter und der Hauptseminarleiterin. Abweichungen gab es kaum, und wenn sie vorkamen, wurde nachgeeicht. Solche Gurus, aus deren dicken Büchern wir stapelweise Kopien ausgeteilt bekamen, die wir in Referaten wiedergeben und für unseren Schulalltag verwenden sollten, waren die Propheten unserer Ausbildungszeit.
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