Schule versagt
absolut gesetzt, unkritisch und bruchlos übernommen und verinnerlicht, als seien sie göttliche Gebote einer unfehlbaren Instanz – und dann wechseln sie doch wieder und eine neue Norm etabliert sich, die genauso rigoros angewendet und deren Nichtbefolgen negativ sanktioniert wird. Keiner kam auf die Idee, dass die zukünftigen Lehrer, zumindest unbewusst, diese Normung auf ihre Schüler übertragen könnten. Bei mir löste die Vorstellung genormten Unterrichts, im heimlichen Lehrplan genormter Schüler und natürlich auf einen einheitlichen Unterrichts- und Verhaltensstil genormter Lehrer Schweißausbrüche aus – aber offenbar war ich die Einzige, deren biochemisches System so heftig reagierte …
Die junge Referendarin ging mehr und mehr auf Abstand zu mir, je länger und intensiver die Sicherheit ihrer Verhaltenskonformität sie über den Schulalltag trug. Natürlich schaffte sie es auch jetzt nicht allein, aber sie schloss sich an die anderen jungen Leute aus unserem Seminar an, die genauso dachten und fühlten wie sie selbst. Sie suchten zusammen den richtigen Meyer-Weg, waren bei allen Seminarleitungen außerordentlich beliebt und hatten auf diese Weise das Gefühl, das Ziel, einen guten Ausbildungsabschluss und eine sofortige Einstellung in den Schuldienst zu bekommen, bruchlos zu erreichen. Vielleicht wäre es mir nicht anders ergangen als ihnen, wenn ich mich direkt nach meinem ersten Studienabschluss ins Lehramt begeben hätte. Ich war damals 24 Jahre alt, hatte Berufserfahrung nur durch einen Vertretungsjob in der Bibliothek, der mich finanziell über Wasser hielt, kein eigenes Kind und keinerlei Erfahrung im Umgang mitSchülern. Aber die vorgeschriebenen Schulpraktika hatten mich abgeschreckt, meinen Studienabschluss für eine Lehrerlaufbahn zu nutzen.
Die Hospitationen waren interessanter als die Seminare. Hier hatte ich es natürlich mit Lehrern und nicht mit Referendaren zu tun. Viele waren so alt wie ich, die meisten älter, wenige jünger. Am liebsten beobachtete ich dieselben Schülergruppen im Unterricht bei jeweils anderen Kollegen. Denn ein und dieselben Schüler ein und derselben Gruppe legten ein radikal unterschiedliches Verhalten an den Tag, je nachdem, welcher Kollege sie unterrichtete. Ich erkannte die Schüler, die bei Kollegin A. noch so ruhig und konzentriert bei der Sache gewesen waren, nun bei Kollegin B. aber für das vollkommene Chaos sorgten, nicht wieder! Das war meine erste prägende Erfahrung, noch bevor ich selbst eine Stunde unterrichtet hatte.
Kollegin A. brachte die Schüler qua Thema, eigener Vorbereitung, Hausaufgaben, die sie einforderte, und konzentriertem und strukturiertem Unterrichtsstil zu effektivem, zielgerichtetem Arbeiten in einer lockeren, entspannten Atmosphäre. Sie war sehr kompetent in Bezug auf ihr Fach, ihr Umgang mit den Schülern war freundlich, aber sehr konsequent. Sie forderte Leistung ein, ein absolutes Bei-der-Sache-Bleiben über die gesamte Unterrichtszeit hinweg. Die zu Hause vorbereiteten, relativ schwierigen Texte verlangten die volle Aufmerksamkeit der Schüler. Sie lobte viel; negative Sanktionen gab es für unvorbereitete, denkfaule Schüler, die sie immer mit einbezog und nicht einfach in den Unterrichtsschlaf entließ. Jeder musste damit rechnen, sich äußern zu müssen. Niemand kam auf die Idee, den Unterricht zu stören. In der Oberstufe eineinhalb Stunden lang, nur mit einer kurzen Fünf-Minuten-Pause dazwischen.
Am nächsten Tag, bei Kollegin B., benahmen sich die Schüler bereits anders, als die Lehrerin noch gar nicht erschienen war. Es ging hoch her, einer versuchte den anderen zu überschreien, einige spielten Karten, und ein Mädchen, das mir bei Kollegin A. als besonders zurückgezogen und schweigsam aufgefallen war, führte nun das große Wort. Die Schüler beruhigten sich kaum, als Frau B. erschien. Sie nahmen zwar ihre Plätze ein, redeten aber weiter ungeniert drauf los und amüsierten sich offenbar köstlich, währendFrau B. in einer Mischung aus Unsicherheit und Verlegenheit ihre Unterrichtsmaterialien aus der Tasche kramte, ausbreitete und versuchte, sich Gehör zu verschaffen. Die gesamte Zeit über war der Lärmpegel hoch, die Leistungsbereitschaft gering, das Wissen (der Schüler) um das Nicht-sanktioniert-Werden tat ein Übriges: Es war chaotisch. Ich litt auf meinem Platz hinten in der Ecke des Unterrichtsraumes. Am liebsten wäre ich eingeschritten, hätte den Unterricht selbst übernommen, zumal
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