Schule versagt
Ihre Schriften waren unsere pädagogische Bibel. Ich erinnere mich an viele todlangweilige Seminarsitzungen, an deren Ende ich das Gefühl hatte, das Erich Fromm so treffend beschreibt: »Und ich fragte mich: Warum bist du eigentlich so müde, warum bist du so gelangweilt? Mit der Zeit fand ich heraus, dass es einfach daher rührte, dass ich nicht an das Leben herankam, und im Grunde genommen Abstraktionen behandelte.« 9 Ich wollte »an das Leben heran«, schließlich sollte ich junge Menschen unterrichten, sie fördern und eine Beziehung zu ihnen aufbauen. Stattdessen wurde Frau B.-K.s »Wollen wir doch mal sehen, was Meyer dazu sagt …« mein geflügeltes Wort. Wenn es ein wie auch immer geartetes Problem zu lösen galt, schaute sie bei Meyer nach. Die Pragmatiker und die Unsicheren unter den Referendaren lernten bereitwillig und begierig diese Thesen und Unterrichtsmodelle auswendig und man merkte, wie durch die Orientierung an diesen Gurus ihre Unsicherheit im Verlauf der Ausbildung verschwand. Die Hedonisten, die es im Kurs ebenfalls gab, machten es schlauer. Sie hängten sich an die Pragmatiker dran, um von dieser »Zusammenarbeit« zu profitieren. Sie definierten soziale Beziehungen über den Faktor Effektivität. Das Ziel war, mit möglichst wenig eigenem Aufwandwenigstens befriedigende Noten zu erzielen. Einer dieser Freaks fing sogar, obwohl er verheiratet war, ein Verhältnis mit einem der fleißigen, unbedarften Mädchen an, um auf diese Weise zum Ziel zu kommen. Dass er das Referendariat trotzdem nicht bestand, lag an der Tatsache, dass er den ihm zugeteilten Unterricht teilweise oder ganz schmiss. Er ließ ihn einfach ausfallen,kam häufig zu spät oder gar nicht und präsentierte wohl auch schlechte Leistungen, die zeigten, dass er die Guru-Bibeln nicht zur Kenntnis genommen, sondern seine Referate nur abgeschrieben, sein Wissen aus Texten abgelesen hatte, die ihm sein fleißiges Mädchen verfasste.
Einige meiner Mitstreiter im Referendariat wurden wahre Hilbert-Meyer-Experten. Nichts gegen Hilbert Meyer 10 und viele andere Pädagogik-Koryphäen, aber
wie
diese Lektionen verarbeitet und internalisiert wurden, das war das eigentliche Problem. Später, als ich schon einige Jahre als Lehrerin arbeitete, kam ein Junglehrer in unser Kollegium, der sehr aufgeschlossen, nett und bei den Schülern beliebt war. Einmal erzählte er mir, er habe im Umgang mit Eltern und Schülern, falls sich mal einer beschwere, eine absolut sichere Methode des Umgangs mit ihnen: LIMO 11 . Das sei eine Abkürzung für L ob(en), I nteresse zeigen, M ängel offen zugeben und O ffenheit. Das ermögliche Verhaltenssicherheit in jeder Situation. Das war es, was auch uns vermittelt werden sollte: Patentrezepte, unabhängig von Personen, Charakteren und situativen Kontexten auf jede Situation anzuwenden. Das war eine der ersten und einschlägigsten Erfahrungen meiner Referendarzeit: hast du ein Problem, nimm LIMO (oder ein anderes eingeprägtes Verhaltensmuster) – und es ist (scheinbar!) gelöst.
Als ich das Referendariat absolvierte, war der Unterrichtsstil des Sich-völlig-Zurücknehmens als Lehrer im Trend. Der Unterricht sollte einheitlich, völlig losgelöst von (Lehrer-) Persönlichkeit, Stil und Charakter sein, und wer dieser Anforderung genügte, bekam eine gute oder sehr gute Note. Diese angeordneten Unterrichts- und Verhaltensstile wechseln, je nach pädagogischer Mode. Ältere Bekannte und Freunde, die ihre Ausbildung bereits lange hinter sich und diesen »Schnee von gestern« längst vergessen oder verdrängt hatten, holten auf mein Bitten hin ihre Erinnerungen wieder hervor. Es zeigte sich, dass die Art der Ausbildung vom Zeitraum und vom Bundesland 12 , in dem sie absolviertwurde, abhängig gewesen war. Hartmut von Hentig, Pädagogik-Pionier der 70er, Gründer der Laborschule Bielefeld und bis heute publizistisch aktiv, war nicht in jedem Bundesland als Normsetzer beliebt. Nordrhein-westfälische Kollegen hielten große Stücke auf ihn, hatten seine Lehren vollkommen internalisiert und waren in ihren Seminaren »nach von Hentig« geschult worden. Ein bayerischer Bekannter wurde pädagogisch ganz anders sozialisiert. Ich durfte in einigen seiner Stunden hospitieren. Sein Unterricht war lehrerdominiert, wissensorientiert und absolut diszipliniert, sowohl von seiner als auch von Schülerseite. Das ist eine der großen Schwachstellen unseres Ausbildungssystems: Wechselnde pädagogische Leitlinien werden etabliert,
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