Schule versagt
dachte: »Das ersparst du deinen eigenen Kindern später im Leben!« Ich war wütend über die lächerlich anmutende Abiturzeremonie in der Aula, über das konsequente Nichtzelebrieren eines Abschlusses, der damit sofort an Werthaltigkeitverlor – und ich war müde von 13 langen Jahren Destruktivität. So fühlte es sich also an, wenn man seine Freiheit wiedererlangt. Ich war froh und erleichtert, jetzt endlich alles hinter mich gebracht zu haben – wie eine Geisel, die ihrem Peiniger entkommen ist. Jetzt begann der wahre Lern- und Lebensprozess und meine Wiedereingliederung in die Realität des wirklichen Lebens, das ich mit meiner Einschulung aufgeben musste. Es begann der Heilungsprozess, der Jahre in Anspruch nehmen würde. Und es begann die Aufholjagd mit der internationalen gleichaltrigen Konkurrenz, die dank der deutschen Schule gute elf Jahre Vorsprung vor mir hatte.
Das waren meine Erfahrungen mit dem deutschen Schulsystem. Vielen ist es vielleicht genauso oder ähnlich ergangen, vielleicht aber auch ganz anders. Vielleicht war alles viel schlimmer, vielleicht auch alles nur rosig. Einige meiner Schilderungen mögen erfunden oder dramatisch überhöht wirken. Ich kann versichern, sie sind es nicht und sie sind alle wahr. Vieles wirkt widersprüchlich und einiges skurril.
Die Fähigkeit, seine Grenzen zu sprengen, weiter zu gehen als andere, ist jedenfalls in jedem Menschen verankert – unabhängig von politischen Ansichten oder Nationalitäten. Die Entscheidung, Leistung zu bringen oder auch nicht, ist eine aktive. Bevor wir also den Weg beschreiten, der von der »Bologna-Karte« aufgezeigt wird, den Weg in die Wissensgesellschaft, muss sich der Nährboden ändern, in den diese Idee eingepflanzt werden soll. Es hilft nichts, einen Samen zu pflanzen, ihn zu hegen und zu pflegen und sich dann darüber zu beschweren, dass man doch nur wieder Birnen erntet, wenn man Äpfel haben wollte. Keine nachträgliche Transplantation der Welt wird aus diesem Birnbaum einen Apfelbaum machen, egal wie viel Geld man im Anschluss noch dafür ausgibt. Auch Förder- und Integrationsprogramme werden den Baum schlechterdings nicht beeindrucken. All diese Maßnahmen sind nur dann sinnvoll, wenn am Anfang der richtige Keim eingesetzt wurde. Marilyn Wilhelm 16 sagte einst: »Der Sinn und Zweck (für einen Schüler) in die Schule zu gehen, ist zuallererst, dass er seine eigenen Potenziale erkennt.« Nur in einem Umfeld, in dem Kompetenz, nicht Auswendiglernen, belohnt wird und Notennicht subjektiver Willkür unterliegen, können sich diese Potenziale und Stärken wirklich entfalten. Schließlich sollen diejenigen, die jetzt Schüler sind, einmal in diesem Land Verantwortung übernehmen, es leiten und tragen können und ein konstruktiver Teil der Gesellschaft sein.
[ Menü ]
INGE FALTIN
I. Der Prägestock: Das Referendariat
So much of what we call management consists of making it difficult for people to work.
Peter Drucker
Ich fand die Situation unerträglich. Ich sah sehr deutlich, dass unser Sohn in der Schule nicht gefördert und nicht in der richtigen Weise gefordert wurde. Und ich sah auch, dass er an der Schule litt. Es war ein Gefühl des Ärgers und der Empörung, gemischt mit ungläubigem Staunen, das Empfinden einer ständigen »Kampfbereitschaft«, eine gewisse Ohnmacht, die es immer wieder neu zu überwinden galt, und der völlige Mangel an Verständnis für »Pädagogen«, die die Potenziale eines Kindes offenbar nicht zur Kenntnis nahmen oder nehmen konnten. Als mein Sohn im neunten Jahr dieser Tortur angekommen war, beschloss ich, den Dingen auf den Grund zu gehen. Was geht da ab in der Schule, warum sind viele Lehrer so wie die, die uns und unserem Sohn das Leben schwerer gemacht haben als nötig. Ich wollte hören, was dort gesprochen und besprochen wird, im Allerheiligsten, das kein Schüler je betreten darf: im Lehrerzimmer. Ich wollte die Kommunikationsstrukturen kennenlernen, die Gruppendynamik, die Lehrerpsyche – wenn es so etwas überhaupt gab –, den Umgang miteinander, die Bürokratie, überhaupt das ganze System – und, ja, natürlich wollte ich wissen, wie es ist, den Schülern aus der Lehrerperspektive zu begegnen. Kurz: Ich wollte wissen, was das Ganze im Innersten zusammenhält, und beschloss, mich für ein Referendariat zu bewerben.
Das würde erst einmal zwei Jahre dauern. Doch wenn ich Erfahrungen nicht nur als Referendarin, sondern auch als ausgebildete
Weitere Kostenlose Bücher