Schule versagt
Erste-Hilfe-Kurse. Ich fühlte mich ausgelastet, aber nicht ausgefüllt. Die Frage nach der Lehrer-Schüler-Beziehung ging mir nach wie vor im Kopf herum. Es ärgerte mich schon, in welchem Ton in den Seminaren von 2 5-jährigen von »den Schülern« gesprochen wurde. »Die Schüler« haben dies getan (oder nicht getan), »den Schülern« habe ich dies oder jenes gesagt, »mit den Schülern« ging das sehr gut. Ich hörte genauer zu, ließ die Sätze wirken, ärgerte mich wieder und wusste schließlich, worüber: Es klang jedes Mal, als würde über eine anonyme, amorphe Masse gesprochen, in der offenbar kein Platz für Individuen blieb. Es ging unter, dass es sich bei jedem einzelnen Mitglied dieser Masse um einen Menschen handelte. Das erstaunte mich. Immerhin sollten die jungen Leute zu Pädagogen ausgebildet werden. Stattdessen erprobten sie die Thesen und Vorgaben Hilbert Meyers und seiner Kollegen an »den Schülern«, an »der Klasse«. »… alles ist bürokratisiert, alles ist routiniert, …, alles ist Regel …« 13 Diskutiert wurde, wie man die Automaten am besten füttert, damit eine gute Lehrprobe rauskommt. So langsam konnte ich verstehen, was mein Sohn meinte, wenn er sagte: »Man wird gar nicht wahrgenommen.«
Einige Seminarleiter förderten, bewusst oder unbewusst, diese Norm. Sie bestanden auf der bruchlosen Umsetzung ihrer Unterrichtsvorgaben. Inzwischen hatte ich gelernt, dass eine »gute Unterrichtsstunde« immer einen möglichst affektiv-emotionalen Einstieg, zwei methodisch unterschiedliche Erarbeitungsphasen und – ja: was? – enthalten sollte. Der eine Fachseminarleiter bestand auf Sicherung (des zuvor Gelernten), der zweite auf Problematisierung oder Transfer (des zuvor Gelernten). Hier drückte sich die unterschiedliche pädagogische Prägung der beiden Herren ebenso aus wie ihr jeweils grundlegend anderes Verständnis der Aufgaben von Schule, Bildung und Unterricht. Im fortgeschrittenen Alter waren sie beide, nahe der Sechzig, aber der eine konservativ, der andere liberal; der eine war stolz darauf, an einem herkömmlichen Gymnasium zu unterrichten, der andere war stolz darauf, seit dreißig Jahren an einer der wenigen Gesamtschulentätig zu sein. Beide erwarteten, wie die Hauptseminarleiterin bezüglich Meyer, in den Lehrproben ihr persönliches Credo wiederzufinden und benoteten dementsprechend. Damit provozierten sie genau das, was ich zuvor beschrieb: »Die Schüler« hatten jeweils im Sinne ihres Unterrichtskonzeptes zu funktionieren, unsere Aufgabe war es, sie im Rahmen dieses Konzeptes zum Funktionieren zu bringen.
Mein Sohn hatte immer häufiger Aha-Erlebnisse, je länger und intensiver meine Innensicht wurde. »Jetzt versteh ich das!«, hörte ich öfter. Das war so ziemlich das Einzige in dieser Zeit, was mich glücklich machte. Pädagogische Bibeln, streng normierte Vorgaben für Unterrichtsstunden, (zu) viele sinnlose Zusatzkurse, die Arbeit und Zeit kosteten, die an anderer Stelle fehlte: bei der intensiven Zuwendung zu – nein, nicht zu »den Schülern« – zu den jungen Menschen, mit denen ich täglich arbeitete und deren Entwicklung ich fördern wollte. Je mehr ich in diesen Betrieb hineinwuchs, je schneller ich im Laufrad laufen sollte, desto deutlicher kristallisierte sich für mich heraus, was die eigentliche Aufgabe eines Lehrers war, sein musste: die intensive Zuwendung zu diesen jungen Menschen, die meine Kollegen »die Schüler« nannten, die Förderung der Charakter- und Persönlichkeitsentwicklung jedes Einzelnen. Eine Mammutaufgabe. Ich konnte (schon damals) gut verstehen, wie schwer es war, diesen Anspruch – so man ihn überhaupt hatte! – über ein dreißig oder mehr Jahre währendes Lehrerberufsleben aufrechtzuerhalten, täglich umzusetzen und nicht aufzugeben. Und das angesichts der normalen Sozialisation von Lehrern. »Wenn die das so haben wollen, was soll ich denn machen!«, der Satz klang mir im Ohr.
Ob ich zwischendurch ans Aufhören dachte? Ja. Ab und zu spontan, wenn ich wütend oder, was auch vorkam, verzweifelt war. Was mich rettete, war mein Erkenntnisinteresse und die Tatsache, Prozesse der Reifung, des Erwachsenwerdens aus Lehrersicht mit zu erleben und fördern zu können. Das war die Hauptmotivation, auch angesichts widriger äußerer Umstände und der Kindereien um mich herum, nicht aufzugeben. Es gab für mich immer mehr Fragen als Antworten. Die Neugier, diese Fragen zu beantworten, neue zu stellen, war
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