Schule versagt
Unterrichtsstoff zu präsentieren. Man kann, aber man wird nichts erreichen. Weder Wissenszuwachs noch eine positive Lernatmosphäre. Diese Schüler waren »zu«; sie saßen mir (und allen anderen Kollegen, die dort unterrichteten) als eine Mauer des Widerstands gegenüber. Niemand hatte mich auf diese Situation vorbereitet. Nach meiner Erfahrung ist das eine an unseren Schulen weit verbreitete Unsitte. Man bekommt nur die Informationen, um die man sich hartnäckig selbst bemüht. Damals hatte ich keine Ahnung von diesen kollegiumsinternengruppendynamischen Prozessen. Ich ging in die Klasse hinein, stellte mich vor und fragte die Schüler nach ihren Erwartungen. Irgendwie hatte ich das Gefühl, hier etwas in Erfahrung bringen zu müssen, wusste aber nicht was. Ich fühlte mich wie ein Greenhorn mit Berufs- und Lebenserfahrung – und diese Schüler taten mir leid. Das war mein erstes spontanes Gefühl. Etwas verbarg sich hinter der mir deutlich gezeigten Ablehnung und Geringschätzung. Wie konnte ich diese Mauer einreißen? Wo war der Ansatzpunkt, um den ersten Stein herauszubrechen?
Was hätte ein junger Referendar in dieser Situation getan? Wahrscheinlich hätte er versucht, Lernstoff zu transportieren, vielleicht mit allen Raffinessen, die Pädagogik-, Methodik- und Didaktikbibeln bieten. Wahrscheinlich wäre er hilflos gewesen und hätte Mentor oder Mentorin, falls vorhanden, um Rat gefragt. Der Gang zum Direktor ist auch eine gern gewählte Alternative, aber nicht zwecks Informationsaustauschs, sondern zwecks verzweifelter Ratsuche. Nach meiner Erfahrung beziehen viele junge Kollegen Feindseligkeiten der Schüler auf sich persönlich, überbewerten sie, interpretieren hinein, was nicht hineingehört, fühlen sich lächerlich gemacht und reagieren ihrerseits mit Feindseligkeit oder Anbiederung. Eigentlich sollte man nur erfahrene Kollegen in solche Klassen schicken. Hatte dieses Schicksal einen jedoch ereilt, so galt es, die nächste Lehrprobe auch in dieser Klasse zu bestehen, also Wissen zu präsentieren, eifrige Schüler und einen perfekten Stundenverlauf gemäß der vorgegebenen Einheits-Ablaufplanung. Ich habe einen Referendar erlebt, der sich all das durch die Verteilung von Schokoküssen erwarb, eine positive Sanktion also, die offenbar bis zur Lehrprobe trug. Dann gab er die Klasse ab, ohne in irgendeiner Weise ihr Motivations- hinter dem Verhaltensmuster eruiert zu haben. Mit hoher Wahrscheinlichkeit kannte er diese feine und für die (erfolgreiche) Referendarausbildung so unwichtige Unterscheidung gar nicht.
Der Widerstand der Schüler saß tief. Sie hatten keine Erwartungen. Meine Frage blieb unbeantwortet. Auf weitere Fragen nach dem bisherigen Lernstoff bekam ich einsilbige oder aggressive Antworten: »Irgendwas, langweiliges Zeug, weiß ich nicht mehr«, »Irgendwas mit Nazis, ich kann’s nicht mehr hören!«, »Keine Ahnung« usw. Die meisten beobachteten mich. Wie würde ich aufdie Provokationen reagieren? Einige feixten, andere schauten gelangweilt aus dem Fenster. Ihre Körpersprache war abweisend. Einem Impuls folgend fragte ich nach ihren Erfahrungen mit der Schule, mit ihren Lehrern, und hatte mit einem Schlag ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Keiner sagte ein Wort. Ich fragte direkt: »Was haben Sie durchgemacht, wer hat das bewirkt bei Ihnen?« Ich musste die Frage nicht erklären; jeder wusste, was mit »das« gemeint war. Sie schauten mich jetzt offen an. Immer noch antwortete keiner. »Sie wirken auf mich wie eine undurchdringliche Mauer«, sagte ich, »ich überlege, wie ich diese Mauer abbauen kann. Sie sind nicht so geboren. Was ist passiert?« Nach und nach rückten sie mit der Sprache heraus. Sie hatten einen Klassenlehrer, der mir bereits im Lehrerzimmer durch seine Infantilität aufgefallen war. Der Umgang mit ihm war eine einzige Quälerei für sie gewesen. Insbesondere seine ungerechten Anwürfe und Beschimpfungen hatten sie hart getroffen. Äußerungen wie: »Ihr seid doch alle Arschlöcher!« waren gefallen. Die Tatsache, dass ihnen aus ihrer Sicht keiner der Kollegen, nicht einmal der Direktor, geholfen hatte, war keine vertrauensfördernde Maßnahme gewesen. Sie standen allein und waren der Willkür ausgeliefert.
Wie ich später erfuhr, hatten Direktor und stellvertretender Direktor versucht, den Klassenlehrer, Herrn W., »einzubinden«, anstatt ihm die Klassenleitung zu entziehen. Er sollte in Projekte mit seiner und anderen Klassen involviert werden, die er mit dem
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