Schule versagt
Dieser Teil bezog sich auf die Unterrichtsstunde und dort hatte es einen Zeugen gegeben: Der zuständige Fachbereichsleiter hatte sich meine Arbeit mit angesehen und war offensichtlich sehr zufrieden gewesen. Deshalb konnte R. nur im letzten Teil, in Bezug auf meine Schulrechtsprüfung, sinngemäß Folgendes zu Papier bringen: Zwar habe ich eine wissenschaftliche Lehrerlaufbahn durchlaufen, aber ich sei dennoch nicht in der Lage, die Kenntnis schulrechtlicher Regelungen als Ausdruck professionellen Lehrerhandelns zu verstehen. Das Hauptamt beziehe sich in meinem Lehrer-Selbstverständnis unzulässig auf das zielorientierte und individuell-emotionale Unterrichts- und Erziehungshandeln. Selbstredend war eine detaillierte Auflistung der betreffenden Schulrechtsparagrafen Bestandteil der Beurteilung.
Er schaute mich über den Rand seiner Brille hinweg an. Ich war nun doch, obwohl ich ihn kannte, überrascht. So wenig Niveau hatte ich ihm nicht zugetraut. Verglichen mit seiner Eingangsbeurteilung, in der er mich noch über die Maßen gelobt hatte, war dieses neue Urteil, nur ein paar Monate später, vernichtend. Für mich persönlich war es ein herrlicher Stoff für meinen Drang, alles aufzuschreiben, was ich in der Schule erlebt hatte. Aber R. konnte mit Sicherheit davon ausgehen, dass er mir mit dieser Beurteilung ein für alle Mal den Aufstieg auf eine Funktionsstelle verbaut hatte.
In meinem Kopf arbeitete es. Jetzt sollte ich das Dokument unterzeichnen. Das war das normale Prozedere. »Das unterschreibe ich nicht«, sagte ich. »Finden Sie sich darin nicht wieder?«, fragte er und schaute mich ernst an, wie ein Vater, der sein böses Kind bestrafen will. »Genauso ist es«, antwortete ich. »Und deshalb unterschreibe ich es nicht.« Er wurde unsicher, bekam einen roten Kopf (den bekam er in solchen oder ähnlichen Situationen immer) und sagte schließlich gespielt jovial und entspannt: »Siekönnen das gern auch noch mal mit nach Hause nehmen, es in Ruhe durchlesen und dann entscheiden. Ich muss es nur morgen wiederhaben.«
Das hatte ich nicht zu hoffen gewagt! Ich erklärte mich sofort einverstanden, verabredete mit ihm einen Termin für den Folgetag und ging. Als Erstes machte ich eine Kopie. Am nächsten Tag schmiss ich die Verabredung mit R. Ich ging einfach nicht hin, ließ ihn schmoren und fuhr nach dem Unterricht nach Hause. Mal sehen, wann R. unruhig wurde. Er hatte ein Dokument aus der Hand gegeben und bekam es nun nicht am nächsten Tag zurück. Lange musste ich nicht warten. Kaum war ich zwei Stunden zu Hause, klingelte das Telefon, R. erkundigte sich nach mir und sagte zu meinem Mann, er mache sich »große Sorgen um Ihre Frau«. Er habe einen Termin mit mir gehabt, ich sei aber nicht erschienen und nun sei er beunruhigt. Das war wirklich eine Aufführung, wie sie nur das (Schul-)Leben selbst erfinden kann. Er hatte Angst, weil er das Dokument leichtfertig aus der Hand gegeben hatte, und gab vor, sich Sorgen um mich zu machen. Ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte, hörte noch, wie mein Mann sagte: »Diese Sorgen machen Sie sich zu recht«, und das Gespräch beendete. Ich entschied mich schließlich für das Lachen. Aber es tat weh, dieses Lachen, und es blieb mir im Hals stecken, denn mein Entsetzen über die charakterliche Disposition und die mangelnden Führungsqualitäten einer Leitungsfigur in der Schule war größer.
Zwischen diesen Ereignissen und den nachfolgenden lag das Wochenende. Für mich war es Regenerationszeit, für R. vermutlich sehr lang. Am Montag brachte ich ihm das Original zurück. Er war sichtlich erleichtert, auch nicht mehr auf Konfrontation gestimmt und bot mir an, ich solle die Teile der Bewertung, die mir nicht gefielen, umformulieren. Ich nahm das Angebot an, und so entstand die von R. und mir unterzeichnete Endfassung dieses unseligen Dokuments. Nun stand in der Beurteilung, dass ich eine bewusste und reflektierte Haltung zu elementaren schulrechtlichen Regelungen als Teil professionellen Lehrerhandelns verstehe. Das Hauptamt beschränke sich in meinem Lehrer-Selbstverständnis nicht auf ein zielorientiertes und individuell-emotional begründetes Lehrerhandeln.
So wie alle Erlebnisse in diesem Buch sollen auch diese Erfahrungen zeigen, was sich in der Schule abspielen kann und warum, auch deshalb, Bildung ein Glücksspiel ist. Wer in welcher Form unterrichtet und benotet, wer von der Schulleitung gefördert wird oder auch nicht, wer in welcher
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