Schule versagt
das machte das Ganze ein bisschen weitschweifig in den Erklärungen (des Ablaufs und der Spiele). Aber noch waren die Schüler gutmütig, neugierig und unsicher. Noch nahmen sie nur auf. Der Backlash oder auch der Sudden Backlash kommen immer später, wenn sie sicherer sind und ihre Umgebung einschätzen können. Das fiel mir auf an diesem Morgen, als Raphael redete. Und mir wurde wieder einmal klar, dass EVA nicht in einer Woche aus dem Paradies vertrieben wird, sondern dass wir froh sein konnten, wenn wir es in drei Jahren schafften, sie zur Menschwerdung zu motivieren.
Raphael hatte aufgehört zu reden. Wir spielten das Kofferspiel, um uns kennenzulernen. Es war erstaunlich, wie es allen gelang, sich auf Anhieb 28 Namen und Gegenstände zu merken. Herb und Bernd hatten sich in unserer letzten Vorbereitungskonferenz für den Montag und Dienstagmorgen abgemeldet, um sich beim Kennenlernspiel nicht zu blamieren und so einen schlechten Eindruck bei den Schülern zu hinterlassen. Carlo fehlte aus dienstlichen Gründen. Aber Ilse, Raphael, Hans und ich schlugen uns tapfer und nach einer halben Stunde kannten wir alle unsere künftigen Schüler mit Vornamen. Sie hatten Gesichter von Anfang an. Ich fühlte mich sehr gut dabei. Im Unterricht jemandem in Ermangelung eines Namens auffordernd zuzunicken und ihnzu einem Redebeitrag zu ermuntern – das hatte mir nicht gefallen, zumal ich mir einzelne Gesichter und Namen gemerkt hatte und andere nicht, aus welchen Gründen auch immer. Ich fühlte mich in der Runde wohl. Das war eine spontane Erkenntnis und ich hatte den Eindruck, dass es den Kollegen ebenso ging. Einige Schüler blickten allerdings noch immer unsicher um sich. Gleich zu Beginn, als sie mit Raphael in unseren Raum gekommen waren, hatte sich die Erwartungssicherheit, die sie in Bezug auf Schule aus der Mittelstufe mitgebracht hatten, nicht erfüllt. Das, was sie hier erlebten, war nicht Teil ihrer Schulerfahrung gewesen und diejenigen, die Orientierungssicherheit brauchten, waren deshalb unsicher, auch wenn das Kennenlernspiel die Stimmung gelockert hatte.
Als Nächstes war es mein Part, EVA vorzustellen. In den Ferien hatte ich mir überlegt, wie ich kurz, aber pointiert und dabei anschaulich einen ersten Einblick in eigenverantwortliches Arbeiten geben konnte. Das Haus des Lernens, das ich aus PSE kannte, schien mir in abgewandelter Form eine sinnvolle Metapher dafür zu sein. Ich projizierte das von mir etwas veränderte Haus (s. Grafik S. 177) in Übergröße an die weiße Rückwand des Raumes und erläuterte, wie man in Parterre ankommt und über den ersten, zweiten und dritten Stock ins Dachgeschoss, zu den Schlüsselqualifikationen, gelangt. Im Keller hatte ich die Ist-Situation platziert. Nicht die persönliche Ist-Situation eines einzelnen Schülers, sondern die, die aus den PIS A-Ergebnissen , der Unterrichtskritik vonseiten der Arbeitgeber und der Hochschulen und aus meiner eigenen Erfahrung resultierte:
Mängel in grundsätzlichen Sozialtechniken wie Lesen, Schreiben und Rechnen
Fehlende Methodenkompetenz
Rezeptives, passives Verhalten
Probleme bei der selbstständigen Erarbeitung von Wissen
Mängel in der Vortrags- und Präsentationstechnik
Mangelnde Fähigkeit zu Konzentration und Entspannung
Unzureichende Problemlösungskompetenz
Unentwickelte Teamfähigkeit, d. h. in der Erarbeitung und Umsetzung von Lösungsstrategien in der Gruppe
Fehlende Sozialkompetenz, wie z. B. das Übernehmen von Verantwortung, kooperatives Arbeiten und Entwickeln von Konfliktlösungs-Strategien 9
Das versuchte ich mit ruhiger Stimme zu erklären. Die Stimme ist wichtig für Lehrer. Auch das hatte ich gelernt. Im Referendariat hatte ich die herrische Stimme meines P W-Seminarleiters ertragen müssen, die seine autoritäre Grundeinstellung widerspiegelte, ohne dass ihm dieser Zusammenhang je bewusst geworden wäre. Er war stolz auf seine »laute, raumfüllende Stimme«, mit der er die Schüler auch im entferntesten Winkel des Klassenzimmers wach hielt. Mir war in jeder seiner Vorführstunden äußerst unbehaglich zumute, und als ich darüber nachdachte, warum, fiel mir auch diese dröhnende Stimmlage als einer der Gründe für die frostige Atmosphäre ein. Frauenstimmen hatte ich gehört, die, wenn auch nicht immer laut, so doch als schrill in Erinnerung geblieben waren. Immer ein bisschen aufgeregt, meist einhergehend mit den vorstehenden, weit geöffneten Augen des »Schilddrüsenblicks« und einem
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