Schule versagt
übernehmen, alle drei Jahre wieder. Vielleicht auch deshalb, weil er keine eigenen Kinder hatte, ließ er sich total auf seine Schüler ein. Und weil er pädagogisch nicht unbegabt war, gelang ihm vieles. Die Lösung von Konflikten ebenso wie persönliche Gespräche, die er laufend führte, mit Schülern und Eltern. Er besuchte seine Schüler sogar zu Hause, hatte schon stundenlang vor ihren Türen gewartet, um herauszubekommen, ob ein säumiger Schüler überhaupt noch gewillt war zu kommen oder ob er sich bereits entschlossen hatte, die Schule zu verlassen. Er kannte ihre persönlichen Verhältnisse genau und bemühte sich aufrichtig um Lösungen. Raphael war umständlich und manchmal etwas steif, und er hörte sich gern reden. Seine Ausführungen über die Probleme und Konflikte, mit denen seine Schüler kämpften, dauerten 15, 20 Minuten oder länger. Jedes Detail wurde problematisiert. Auch Selbstverständliches. Er strapazierte seine Zuhörer mitunter mehr als ihnen angenehm war. Ich hatte manchmal den Eindruck, dass Raphaels umständliche Art, Probleme zu lösen oder esjedenfalls zu versuchen, ein Stück Selbstverwirklichung war, zumindest aber ein wesentlicher Teil seines Selbstverständnisses. Er war kein wirklicher Macher. Um das zu sein, tat er viel zu viel. Er genoss seine Rolle als wichtigster Bezugspartner seiner Schüler in der Schule, auch wenn es nur qua Amt war. Er war nett, ließ sich gern bitten und konnte auch abweisend sein – hauptsächlich im Fall gekränkter Eitelkeit.
In allen Gesichtern sah ich Müdigkeit und Erholungsbedürftigkeit nach einem langen Schuljahr. Bei mir war das sicherlich nicht anders. Ich sah Skepsis: Wird das auch alles so klappen, wie wir uns das vorgestellt haben? Ich sah Besorgtheit darüber, was alles schiefgehen könnte. Ich sah Hans’ aufgesetzte Heiterkeit. Ich sah Stolz in Carlos Gesicht: Immerhin waren es Kollegen aus seinem Fachbereich, die das Neue wagten. Und immer noch stand die kindliche Freude in Bernds Gesicht darüber, dass er sich kurz vor seiner Pensionierung noch einmal aufraffte und mitmachte. So gingen wir in die Ferien.
Würde der Elan nachlassen? Ich arbeitete weiter am Gesamtkonzept und merkte, dass ich gleich zwei Probleme zu lösen hatte. Zum einen die Beobachtung des EV A-Umsetzungsprozesses mit allen Indikatoren (heimlicher Lehrplan, Motivation hinter dem Verhalten, Rolle der Lehrerpersönlichkeit in der Schule) und zum anderen die Etablierung der Grundbausteine meines eigenen Konzepts in meinem Unterricht und darüber hinaus. »Darüber hinaus« bedeutete, dass ich eine eigene Klasse übernehmen müsste, denn nur als Klassenleiter hat man den intensivsten Kontakt mit den Schülern eben auch über den Unterricht hinaus. Man nimmt Entschuldigungen für Fehlzeiten entgegen, spricht mit Eltern und vor allem mit Schülern über alle auftretenden Probleme und wird von Beginn an von den Schülern als Hauptansprechpartner wahrgenommen. Ich wollte nach der ersten EV A-Phase eine eigene Klasse bekommen und EVA und meine eigenen Vorstellungen über drei Jahre hinweg erproben!
Als wir uns am Ende der Ferien zur letzten EV A-Konferenz vor der Learning-by-Doing-Woche trafen, hielt ich mich mit meinen Erkenntnissen zurück. Ich hatte gelernt, dass es nichts Dümmeres gibt, als eigene Pläne hinauszuposaunen, noch bevor sie spruchreif sind. Das ruft sofort die Verhinderer auf den Plan. DieMisstrauischen (»Was hat die vor?«, »Kann die uns gefährlich werden?«, »Will die aufsteigen?« usw.) und die Bösartigen (»Die nicht!«). Ich war inzwischen schlau genug, nichts zu sagen. Die Kollegen waren erholt aus den Ferien gekommen und erzählten von weiten und nahen Reisezielen. Fast alle waren weggefahren, Bernd sogar bis zu den Komoren. Er wirkte vitalisiert, war tief gebräunt und fühlte sich offenbar um Jahre jünger. Auch die anderen wirkten frischer als vor dem Urlaub. Die Konferenz gestaltete sich entsprechend zügig. Wir ließen die vor den Ferien gemachte Planung bestehen, besprachen die Details und wünschten uns für den Montag und die folgenden Tage ein gutes Gelingen.
Am Montag waren die für diesen Tag eingeteilten Kollegen zur Stelle. Raphael war ganz in seinem Element und nahm seine Rolle als Klassenleiter routiniert und mit sichtlichem Wohlbehagen ein. Es waren alles seine Kinder, die 30 Schüler, mit denen wir in der Runde saßen, und er nahm seine Rolle als Klassenvater ernst. Dass er sich gern reden hörte, war bekannt, und
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