Schule versagt
wollten. Aber das sagte ich nicht. Das auch nicht.
Als der Raum wieder hell war, räumte ich die Projektionsutensilien weg und schaute nach meinen Kollegen. Herb und Bernd waren inzwischen eingetroffen und hatten den Vortrag gehört. Ilse sah ein bisschen missmutig aus, Hans nickte mir anerkennend zu. Herb und Bernd schauten unsicher in die Runde. Nachdem Raphael den Wochenzeitplan vorgestellt hatte, gingen wir in die Pause und warteten, als die halbe Stunde um war, auf Nachzügler. Das war interessant, weil Raphael zu Beginn seiner langen Ausführungen am Morgen darauf hingewiesen hatte, dass wir Wert auf Pünktlichkeit legten. Wie würde er damit umgehen, dass bereits in der ersten Pause nach diesem Hinweis einige Schüler sich nicht daran hielten? Ich drängte darauf weiterzumachen; alle wussten Bescheid, ich hatte keine Lust, auf die Verspäteten zu warten und dadurch für die gesamte Gruppe den Zeitplan zu verzögern. Als sich nach zwei, drei und noch einmal nach fünf Minuten die Tür öffnete und die letzten Schüler eintraten, hatte Hans bereits mit der Erklärung der Bildergeschichte begonnen. Natürlich hatten die Verspäteten die Erklärung nicht mitbekommen. Und natürlich entstand Unruhe durch Stühlerücken, Stolpern über Taschen und umständliches Hinsetzen. Ich wartete darauf, dass Raphael sich zu Wort meldete, und tatsächlich wies er noch einmal auf das Agreement, pünktlich zu beginnen, hin. Diese Konsequenz ist eines der wichtigsten Elemente, wenn sich neue Gruppen konstituieren. Wenn man in diesen Fragen auch nur einmal nachlässig ist, tritt ein, was bei jedem Normsetzungsprozess eintritt: Die Norm wird brüchig. Ist man als Normsetzer weiter nachlässig, wird die alte Norm so schnell durch die neue – Dulden der Verspätung – ersetzt, wie man gar nicht gedanklich folgen kann. Das geht ganz schnell.Raphael war offenbar entschlossen, die Norm zu etablieren, etwas, das unter Lehrern durchaus nicht selbstverständlich ist. Nicht alle Lehrer sind erfolgreiche Normsetzer. Wahrscheinlich würde Raphael noch oft insistieren müssen.
Die Bildergeschichte zu entwerfen anhand der auf dem Boden ausgelegten und nach eigenem Interesse ausgesuchten Bilder, machte offenbar allen Spaß. Die Gruppen zogen sich zurück, ich hörte die Schüler lachen. Nach der vorgegebenen Zeit konnte jeder seinen Part der Geschichte erzählen, immer in Fortsetzung, sodass am Ende ein vollständiger Plot dabei herauskam. Die Geschichten selbst fielen kürzer aus, als wir gedacht hatten. Allerdings entbehrten einige von ihnen nicht der Originalität und Fantasie. Und alle hatten Anfang und Ende und wurden, was das Wichtigste war, frei oder anhand einiger Stichpunkte erzählt. Es war bemerkenswert, wie die neuen Schüler bereits am ersten Tag miteinander arbeiteten und umgingen, nur weil sie außerhalb von Unterrichtsstrukturen agieren konnten. Das war mehr, als ich erwartet hatte.
Nach der Mittagspause schlug Ilses Stunde, die mit viel Zeit- und Arbeitsaufwand die Schulentdeckung vorbereitet hatte. Gruppenweise zogen die Schüler mit den Kärtchen los, auf die Ilse ihnen Aufgaben geschrieben hatte, z. B. den komplizierten Weg in die Fachräume zu beschreiben; zu schauen, wo man Fahrräder abstellen kann; welche Ausbildungsgänge es in der Schule gab; wo sich die Bibliothek befindet; wie man sich verhalten muss, wenn ein Lehrer nicht zum Unterricht erscheint; wo das Fundbüro ist; wie man Lehrern Nachrichten zukommen lässt usw. Insgesamt hatte jede der Gruppen einige dieser Aufgaben abzuarbeiten. Es galt herauszufinden, wo man die Infos dazu bekommen würde (z. B. im Sekretariat), oder aber selbst auf die Suche zu gehen. Wir sahen die Schüler zur Abschlussbesprechung wieder und erfuhren, dass alle in den zwei Stunden, die dafür vorgesehen waren, ihre Aufgaben gelöst hatten. Ich fand, dass gegen ein bisschen Bewegung für die Schüler nichts einzuwenden sei, genauso wenig wie gegen die Tatsache, dass es nur gut sein kann, wenn man seine neue Schule schnell und effektiv, und vor allem durch eigenes Erkunden, kennenlernt.
Die folgenden Tage liefen im Wesentlichen so ab, wie wir es geplant hatten. Nie zuvor hatte ich ein solch schnelles Miteinander-vertraut-Seinerlebt. Die Textmarkierungs-Session lief etwas gequält ab. Den Schülern waren, wie von Herb angekündigt, genaue Arbeitsregeln vorgegeben. Er meinte, hier gebe es besondere Defizite, die durch eine genaue Anleitung für das Markieren auszugleichen
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