Schumacher, Jens - Frozen - Tod im Eis
aus den Tiefen der Gänge. Doch es blieb totenstill.
Henry fühlte sich niedergeschlagen und unruhig zugleich. Ein Teil von ihm wollte bleiben und nach seinem Vater suchen. Ein anderer, rationalerer Teil wünschte sich nichts anderes, als diesen verfluchten Ort so schnell wie möglich zu verlassen.
Um auf andere Gedanken zu kommen, hob er den Kopf und ließ seinen Blick über die steinernen Wände schweifen. Vorhin, als sie im Eiltempo hindurchgehetzt waren, war ihm gar nicht aufgefallen, dass die meisten Gänge in diesem Bereich mit eingemeißelten Friesen geschmückt waren. Sie verliefen ungefähr in Kopfhöhe und stellten abstrakt verästelte Schriftzeichen dar, seltener auch grafische Darstellungen von Planeten oder Lebewesen, die Henry an die Bilder in der großen Reliefhalle erinnerten.
Auch seine Begleiter bestaunten die Motive. Obwohl niemand etwas sagte, spürte Henry die Verstörung, die die Bilder bei Eileen und den anderen auslösten. Er fragte sich, ob das mit der »psycho-suggestiven Wirkung« zusammenhing, von der Spyker gesprochen hatte. Vielleicht lag es auch einfach an der extremen Fremdartigkeit der Abbildungen.
Plötzlich befiel Henry ein unangenehmes Gefühl, das er bereits von seinem ersten Besuch des Tunnelsystems kannte. Er glaubte, körperlich zu spüren, dass ihnen etwas durch die Finsternis der Stollen folgte. Doch wohin er den Strahl seiner Helmlampe auch richtete, nie tauchte etwas Ungewöhnliches im Lichtkegel auf. Mühsam unterdrückte er den Drang, Hals über Kopf loszurennen, und marschierte stattdessen stur weiter hinter Golitzin her.
Als sie an der nächsten Kreuzung stoppten, damit der Russe seine zuvor hinterlassene Markierung wiederfinden konnte, fiel Henrys Blick in einen schmalen Seitentunnel. Dort schloss sich nach wenigen Schritten eine enge, aufwärts führende Rampe an, die sich wie eine Wendeltreppe ohne Stufen steil in die Höhe schraubte.
»Dr. Golitzin? Glauben Sie, dieser Weg könnte nach oben zu einem weiteren Ausstiegsloch führen?«, wollte er wissen.
Golitzin leuchtete prüfend den Gang hinauf. »Schwer zu sagen. Aber selbst wenn dem so sein sollte, die Öffnung wäre höchstwahrscheinlich mit Eis bedeckt.«
»Ich bin trotzdem dafür, dass wir nachsehen«, meldete sich Eileen zu Wort. »Ich habe allmählich das Gefühl, dass mir hier unten die Decke auf den Kopf fällt. Für jeden Meter, den wir wieder oberirdisch zurücklegen können, bin ich dankbar.«
Da niemand etwas dagegen hatte, folgten sie nacheinander den Windungen des schmalen Ganges nach oben.
Leider bewahrheitete sich Henrys Hoffnung nicht. Der Aufstieg endete wenige Meter höher in einem sternförmigen Raum, von dem erneut fünf identische schmale Tunnel abgingen.
»Das war nichts«, stellte Golitzin fest. »Rückzug und auf dem bekannten Weg weit –« Er verstummte, als ein leises Geräusch aus einem der Gänge heranwehte.
Es war ein leises, klägliches Stöhnen.
»Bim! Was zum …«
»Das war ein Mensch, ganz sicher!« Eileen schwenkte ihre Lampe von einem Gang zum nächsten. »Woher kam das?«
»Ich glaube, irgendwo aus dieser Richtung.« Morten Gray bewegte sich vorsichtig auf die rechte Seite der Kreuzungskammer zu.
Das Stöhnen wiederholte sich. Diesmal hielt es länger an, ein unartikulierter Laut, rau und kraftlos zugleich, wie von einem Menschen, der große Qualen litt.
»Jetzt bin ich ganz sicher: Es kam aus diesem Gang!« Gray leuchtete in einen der Tunnel zu seiner Rechten.
»Vielleicht ein Verwundeter aus Spykers Team?«, vermutete Dr. Lamont. »Dann wäre es unsere Pflicht nachzusehen.«
Rasch brachte Golitzin eine weitere Kreidemarkierung an, dann betraten sie den Gang. Wie schon in den Gängen eine Etage tiefer waren auch die Wände dieses Stollens mit gemeißelten Friesen verziert, die auf beiden Seiten bis dicht unter die Decke reichten. Hier zeigten sie großflächige geometrische Formen, deren absurde Winkel und Schrägen an die Ruinen hoch über ihren Köpfen erinnerten. Henry konnte nur ein paar davon betrachten, bis sich alles in seinem Kopf zu drehen begann.
Nach etwa fünfzig Metern erweiterte sich der Korridor zu einer lang gestreckten Halle mit spitz zulaufender Decke. Sie war nicht übermäßig groß, die Strahlen ihrer Helmlampen reichten mühelos bis ans andere Ende, wo sich die Öffnung eines weiteren Korridors abzeichnete. Bis auf ein paar Geröllhaufen vor den seitlichen Wänden war die Halle leer.
Die sechs hielten den Atem an, lauschten stumm in
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