Schumacher, Jens - Frozen - Tod im Eis
kleine Unebenheit warf lange, sonderbar geformte Schatten. Als sie sich dem Scheitelpunkt des Passes näherten, verspürte Henry eine prickelnde Unruhe in sich aufsteigen. Gleich würde er wissen, was seinen Vater Aberhunderte Kilometer über das Eis gelockt hatte.
»Geschafft.« Mit einem beherzten Gasstoß manövrierte Dr. Golitzin den SnoCat die letzten Meter hinauf. Das Röhren des mächtigen Dieselmotors wurde von den Felswänden dröhnend zurückgeworfen. »Rechtzeitig vor Sonnenuntergang. Dann wollen wir mal sehen, was …« Weiter kam er nicht, denn in diesem Moment erfasste sein Blick das, was auf der anderen Seite lag.
Der erste Gedanke, der Henry durch den Kopf schoss, war: Das kann unmöglich existieren!
Vor ihm lagen Berge, so weit das Auge reichte. Die entferntesten Gipfel, im schwindenden Licht der Sonne gerade noch auszumachen, mussten doppelt so hoch sein wie die hiesigen. Eis glitzerte auf senkrechtem Fels.
Doch es waren nicht die Berge, die Henry verstörten. Es war das, was sie einrahmten.
Jenseits des Passes, rund zweihundert Meter unterhalb ihres Aussichtspunkts, tat sich ein gigantischer Talkessel auf. Er musste etliche Kilometer messen, das entfernte Ende war im Schatten der Berge nicht mehr auszumachen. Unerklimmbar schroffe Gipfel schirmten ihn nach allen Richtungen ab. Und inmitten dieses Kessels lag …
»Eine Stadt!« An Henrys Seite schnappte Eileen fassungslos nach Luft.
Unter ihnen erstreckte sich ein Meer aus kolossalen Gebäuden. Sie schienen aus riesigen nachtschwarzen Steinblöcken errichtet und wiesen die absonderlichsten Formen auf. Henry hatte das Gefühl, ein Lehrbuch voller komplizierter geometrischer Zeichnungen zu betrachten – durch eine Brille, deren Linsen jemand mit Vaseline eingeschmiert hatte. Er sah merkwürdige fünfeckige Pfeiler und Pyramiden, riesige quaderförmige Gebilde und schier endlose Wälle mit wild gezackten Zinnen. Die Gesetze der Statik schienen bei der Errichtung dieser Gebäude keine Rolle gespielt zu haben. Manche wiesen eine solche Schrägneigung auf, dass ihr Schwerpunkt deutlich außerhalb der Grundfläche liegen musste. Andere verfügten über Terrassen oder Ausbuchtungen, die so weit nach außen ragten, dass das jeweilige Gebilde eigentlich unmöglich aufrecht stehen konnte.
Selbst die flacheren Bauten schienen vierzig, manchmal fünfzig Meter hoch zu sein, dazwischen ragten seltsam unregelmäßig geformte Türme empor, die sich hundert Meter oder mehr über das Niveau des Talkessels erhoben. Einige waren in schwindelnder Höhe durch steinerne Brücken mit ihren Nachbarn verbunden, bei anderen verrieten verwitterte Stümpfe, dass dem in grauer Vorzeit einmal so gewesen sein musste. Die Anordnung der Gebäude wirkte auf den ersten Blick willkürlich, fast chaotisch. Erst bei genauerem Hinsehen ließ sich erahnen, dass ein komplexer Plan dahinterstecken musste.
Etliche Etagen tiefer war ein Gewirr schmaler Schluchten zu erkennen, allem Anschein nach Straßen. Aufgrund der weit überhängenden Erker und Brückenkonstruktionen wirkten sie allerdings eher wie Tunnel. Sie schienen mit demselben schwarzen Stein gepflastert wie die Gebäude, zumindest soweit man dies durch die dicke Eisschicht erkennen konnte, die sämtliche Wege bedeckte.
»Das …« Professor Albrecht rang nach Worten.
»Was ist los bei euch da oben?«, quäkte Dr. Lamonts Stimme aus dem Funkgerät. »Was seht ihr?«
Niemand war zu einer Antwort fähig. Eileen griff wortlos nach dem Fernglas, während Professor Albrecht hektisch seine Brillengläser polierte. Boris Golitzin murmelte eine Folge konsonantenreicher Silben vor sich hin, vermutlich russische Flüche.
Henry verengte die Augen. Das Labyrinth aus Gebäuden und Straßen schien kein Ende zu nehmen. Je länger er hinsah, desto mehr schienen die aberwitzigen schwarzen Formen sich ineinanderzuschieben, miteinander zu verschmelzen. Unvermittelt begann sich alles in seinem Kopf zu drehen. Seine Beine wurden weich wie Pudding und er musste sich am Armaturenträger des SnoCat abstützen, um nicht zu stürzen. Dennoch konnte er seinen Blick nicht von dem unglaublichen Bild abwenden.
Wie die Straßen waren auch einige der flacheren Bauwerke unter einer glitzernden Eisschicht begraben oder ragten nur knapp daraus hervor. Das freiliegende Mauerwerk war verwittert und rissig, nahezu überall konnte man Beschädigungen erkennen. Die ganze Architektur wirkte auf unerklärliche Weise fremdartig, ihr verstörender Effekt wurde
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