Schusslinie
von deinem Handy. Hier drin wird
gearbeitet – und sonst nichts. Aber auch gar nichts.« Die Frau starrte ihre Angestellte
mit versteinertem Gesicht an. »Und dass eines klar ist, ein für alle Mal …« Ihre Stimme hatte ein gefährliches Zischen
angenommen. »Busen, Beine und Po haben nichts mit Intelligenz zu tun.« Das hatte
sie diesem ›Kindchen‹ schon lange mal sagen wollen. Jetzt war es raus. Wenn dieses
Mädchen glaubte, mit aufreizender Kleidung vielleicht Nullenbruch imponieren zu
können, dann war es höchste Zeit, einen Riegel vorzuschieben.
Die Sekretärin spürte, wie ihr Herz zu rasen
begann und ihre Wangen glühten. Sie wollte etwas sagen, doch ihre Chefin schnitt
ihr das Wort ab: »Ruhe. Ich will nichts hören. Gar nichts. Merk dir eins: Was hier
drin gesprochen wird, was hier geschrieben und ausgehandelt wird, das sind strengste
Geschäftsgeheimnisse. Wenn da auch nur ein Sterbenswörtchen nach draußen dringt,
fliegst du hochkantig raus – und das mit einem entsprechenden Zeugnis. Ich persönlich,
verstehst du, ich persönlich werde dafür sorgen, dass du dann nie mehr wieder einen
Job kriegst. Nie mehr. Denk an deine Vergangenheit. Und denk dran, wo du bist.«
Die Frau war jetzt ganz dicht an die Sekretärin herangetreten, die auf ihrem Schreibtischstuhl
kauerte. »Im Übrigen stehst du gefälligst auf, wenn ich mit dir rede«, fauchte Ute
Siller und deutete mit einer Kopfbewegung an, was sie von der Angesprochenen erwartete.
Das Mädchen, jetzt völlig eingeschüchtert, blieb reglos sitzen.
»Hast du nicht kapiert? Du sollst deinen Arsch
heben.« Die gefährlich scharfe Stimme der Chefin war leiser geworden, denn mit diesem
Jargon wollte sie von niemandem gehört werden.
Die junge Frau erhob sich zögernd, ohne etwas
zu sagen, und fühlte sich dabei mit weichen Knien wie ein Schulmädchen, das etwas
Verbotenes getan hatte. Sie war nahezu so groß wie Ute Siller und schaute ihr angstvoll
in die Augen, als befürchte sie, auch noch eine Ohrfeige verpasst zu bekommen.
»Jetzt werd ich dir mal was sagen«, machte
die Chefin weiter, »egal, was du hier drin erfährst. Du wirst es für dich behalten.
Denn …« Sie überlegte ein paar Sekunden
und ließ ihr Gegenüber nicht aus den Augen, »manchmal kann es gefährlich sein, sehr
gefährlich – zu viel zu wissen.« Und sie fügte hinzu: »Oder das Falsche zu wissen.«
Ute Siller drehte sich weg und eilte zur Tür.
»Jetzt aber an die Arbeit, los«, zischte sie und schmetterte die Tür hinter sich
zu. Die junge Frau blieb völlig verstört zurück. Sie zitterte.
6
Tobias Liebenstein war mit der Frühmaschine von Berlin nach Stuttgart
geflogen. Er gehörte zu den Männern, die um diese Zeit durch die Republik jetteten.
Das schwarze Haar korrekt gescheitelt, mit ein bisschen Gel am Glänzen gehalten,
schlank und sportlich. Wer ihn in Stuttgart aus dem Flugzeug steigen sah, hätte
glauben können, einen dieser jungen Bänker vor sich zu haben, deren einziges Lebensziel
es war, das Geld anderer Leute Gewinn bringend für sich selbst anzulegen. Doch Liebenstein,
der seinen schwarzen Aktenkoffer fest umklammerte, war in anderer Mission unterwegs.
Er winkte am Ausgang des neuen Stuttgarter Abfertigungsgebäudes einem Taxi und ließ
sich zu einer dieser Villen chauffieren, die sich an die sonnenverwöhnten Hänge
oberhalb der Stadt schmiegten.
Der Fahrer fand die angegebene Adresse in der
Weinsteige auf Anhieb, kassierte und entließ seinen wortkargen Gast.
Liebenstein drückte auf den goldenen Klingelknopf,
den er ohne Namensschild neben einem großen, schmiedeeisernen Torbogen entdeckte.
In diesen vornehmen Wohnlagen blieb man offenbar lieber anonym. Der Berliner blickte
sich um und lächelte in das kleine Objektiv einer Videokamera, die unauffällig zwischen
rankenden Pflanzen angebracht war. Die Sträucher waren nass, auf einem Baum zwitscherten
Amseln. Hinter dem Tor duckte sich das Gebäude in den Hang und erweckte mit seinem
Flachdach einen eher bescheidenen Eindruck. Doch von seinen früheren Besuchen her
wusste Liebenstein, dass es sich über drei Ebenen den Hang hinab erstreckte, umgeben
von einem geradezu mediterranen Garten.
»Ja?« Eine Männerstimme meldete sich aus einem
winzigen Lautsprecher, der in den Betonrahmen des Tores eingelassen war, von dem
Wasser tropfte.
»Hallo Stefan, ich bin’s, Liebenstein«, sagte
der Besucher leise. Der elektrische Türöffner summte. Der junge Mann durchschritt
den mit blühenden Stauden
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