Schusslinie
Frau mit gespielt unterkühlter Stimme fest. »Du solltest Acht geben, dass du
nicht eines Tages das wirklich Wichtige verpasst.«
Riegert lächelte verlegen, klappte den Aktenordner
zu und drehte sich in seinem Bürosessel vollends zu ihr um. »Glaub mir, Eva, ein
Politiker weiß sehr schnell zwischen Wichtigem und Unwichtigem zu unterscheiden.«
Die blonde Frau lehnte sich keck an den Schreibtisch.
»Deshalb hast du jetzt auch prompt deine Akten zugeklappt, stimmt’s? Was würde da
wohl der Herr Bundeskanzler sagen?«
Der Bundestagsabgeordnete erhob sich und schob
den Stuhl an den Platz zurück. »Der Herr Bundeskanzler ist mir wurscht«, sagte er
und fügte spitz hinzu: »Außerdem wird er bald ohnehin nichts mehr sagen.«
Riegert versuchte, ein Mindestmaß an Ordnung
zu halten, wenngleich sich auf seinem Schreibtisch Papiere stapelten und in den
Regalen rundum Schnellhefter zwischen Aktendeckeln steckten. Irgendwie waren die
Abgeordnetenbüros auch viel zu klein, hatte er sich schon oft beklagt.
»Auch die künftige Frau Bundeskanzlerin wär
vielleicht nicht gerade erbaut, wenn sich der Herr Abgeordnete so schnell ablenken
lässt«, stichelte Eva weiter.
Er ließ sich nicht provozieren. »Hast du Lust
auf einen Bummel zum Pariser Platz?«, fragte er und schaute auf die Armbanduhr.
Es war kurz vor zwölf und seine Sekretärin bereits gegangen. Er hatte sich ohnehin
vorgenommen, diesen Mittag trotz der ungewöhnlichen Kälte draußen zu verbringen.
Sie willigte ein. In letzter Zeit war Eva auffallend oft um diese Zeit gekommen.
Er kannte die Mittdreißigerin schon seit mehreren Jahren, doch waren die Kontakte
nie über das rein Geschäftliche hinausgegangen. Da achtete er auch streng darauf.
Denn er war daheim im Schwäbischen glücklich verheiratet und zählte nicht zu jenen,
die sich die Sitzungstage in Berlin mit Affären versüßten.
Eva Campe arbeitete einige hundert Meter vom
eigentlichen Regierungsviertel entfernt, drüben in der Scharnhorststraße, wo sich
das Wirtschaftsministerium befand. Seit geraumer Zeit interessierte sie sich stark
für Sport, diskutierte gerne über die Fußballspiele der Nationalmannschaft und konnte
sich sogar ärgern, wenn die millionenschweren Kicker wieder mal absolute Lustlosigkeit
bewiesen hatten, wie vor einigen Wochen gegen Slowenien. Riegert nahm in solchen
Fällen den Bundestrainer in Schutz, der schließlich habe »bei null« anfangen müssen,
was nicht einfach gewesen sei. Und Riegert verstand etwas von Fußball, war er doch
seit Jahr und Tag aktiver Spieler in der Bundestagsmannschaft – sogar Torschützenkönig
und jener mit der längsten Zugehörigkeit.
Sie waren durchs Brandenburger Tor gegangen,
auf dessen östlicher Seite mehrere hundert Touristen aus Omnibussen quollen. Es
hatte aufgehört zu regnen, als sie den großen Platz erreichten, an den sich das
Nobelhotel ›Adlon‹ anschloss. Hier, auf der Straße ›Unter den Linden‹, hatte Riegert
ein Café vorgeschlagen, vor dem man bei schönem Wetter im Schatten der Bäume und
Häuserfronten ein Eis essen konnte. Heute jedoch mussten sie im Innern Platz nehmen.
»Sag mal, Klaus«, begann die Frau, als sie an einem der Tischchen saßen, »wie ist
das eigentlich – kriegst du überhaupt mit, was bei dir daheim so läuft? Ich mein’:
Du bist die ganze Woche über in Berlin und dein Schwabenland ist weit.«
Der Politiker sah ihr in die großen, blauen
Augen. Für einen Moment stutzte er, denn ihm war der Hintergrund der Frage nicht
klar.
»Meine Frau hält mich auf dem Laufenden«, erwiderte
er, als die junge Bedienung die Eisbombe mit reichlich Sahne brachte, »außerdem
gibt’s mein Büro, das für mich den ganzen Schriftverkehr im Wahlkreis abwickelt.«
Er begann die Sahne zu genießen, während ihn seine Gesprächspartnerin aufmerksam
musterte. Riegert überlegte, worauf die Frau hinaus wollte. »Dazu kommt«, fuhr er
fort, »dass ich im Internet täglich die beiden regionalen Tageszeitungen lese – wenigstens den Lokalteil, um zu wissen, ob
mich jemand attackiert«, lächelte er. Eine Gruppe Amerikaner betrat lautstark das
Café.
»Man wirft euch Politikern doch oft vor, den
Kontakt zur Basis verloren zu haben«, provozierte Eva Campe und zog eine Schnute.
»Ist das nicht frustrierend?«
Riegert nickte. »Schon, natürlich, ja – vor
allem, wenn diese Behauptungen verallgemeinert werden. Natürlich gibt es Kollegen,
die bar jeglicher Ahnung sind, wie es dem Normalbürger heutzutage geht. Die
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