Schusslinie
so genannten
Berufspolitiker. Abitur, Studium, Politiker – nie aber ernsthaft gearbeitet, verstehst
du? Vielleicht mal als Ferienjobber irgendwo reingeschnuppert, aber das war’s.«
Wenn er auf dieses Thema angesprochen wurde, konnte er richtig emotional werden.
Er genoss das herrlich sahnige Eis und sah in das interessierte Gesicht seiner Zuhörerin.
»Du hast mal richtig gearbeitet? So hab ich
das in Erinnerung …«
»Ich bin Kriminaloberkommissar, ja. Deshalb
sind mir die Nöte des werktätigen Volkes durchaus bekannt. Ich weiß, was es bedeutet,
mit einem relativ geringen Gehalt eine Familie ernähren zu müssen – mit richtiger
Arbeit, unter Stress und Druck durch Vorgesetzte. Während die meisten hier …« Er deutete eine Kopfbewegung in Richtung
Reichstagsgebäude an, »… während die meisten hier doch derart dummes Zeug daher
schwätzen, dass man meinen könnte, eine Kassiererin beim Aldi zähle schon zu den
Besserverdienenden, die man ruhig weiter mit Steuern und sonstigen Einschränkungen
belasten kann. Das Schlimmste ist, dass gerade die Sozis so daher reden. Aber was
soll ich sagen, Eva? Wahrscheinlich verdirbt dieser Job hier den Charakter. Wer
daheim die Bodenhaftung verloren hat, schwebt hier in höheren Sphären – und weiß
überhaupt nicht, wie’s draußen in der Republik brodelt.« Nach kurzer Pause fügte
er hinzu: »Aber seit der NRW-Wahl haben sie’s wohl kapiert.«
»Und warum hast du bisher da drüben nicht auch
mal ordentlich auf den Tisch geklopft?« Sie sah ihn mit einem angedeuteten Grinsen
an.
»Wenn ich eines in all den Jahren gelernt habe,
dann sind es die Gesetzmäßigkeiten, mit denen da drüben alles abläuft. Jeder Einzelne
weiß, wie schwerfällig dieser Regierungsapparat geworden ist – jeder sieht es ein.
Aber keiner, nicht einer, ist in der Lage, daran was zu ändern. Als Einzelner geht
das sowieso nicht.« In Riegerts Stimme schwang ein bisschen Resignation mit.
»Das klingt nach Frust«, meinte Eva und sah
auf die Straße hinaus.
»Was heißt Frust!?« Der Politiker wollte nicht
den Verdacht der Hilflosigkeit aufkommen lassen. »Du weißt doch selbst, wie hier
Besitzstände verteidigt werden, wie Lobbyisten und Interessenvertreter ihr Süppchen
kochen – ganz zu schweigen von den Seilschaften und Verflechtungen zwischen Ministerien,
Parteipolitik und Wirtschaft.« Der Politiker sah in Gedanken versunken zu einem
Pärchen am Nebentisch hinüber. »Ich sag dir, Eva, der Einfluss des Kapitals in die
Regierungspolitik war nie zuvor so groß. Manchmal hab ich den Eindruck, die Rot-Grünen
hätten sich den Unternehmern geradezu angebiedert und dabei nicht gemerkt, wie sie
über den Tisch gezogen wurden. Hätten wir Konservative das alles angezettelt, was
jetzt passiert ist – ich glaub, die
Bevölkerung hätt uns auf Jahrzehnte hinaus nicht mehr gewählt.«
»Glaubst du das wirklich?«, zeigte sich Eva
kritisch, »die Bevölkerung kriegt doch in dieser medienüberfluteten Welt gar nicht
mehr mit, was in der Politik geschieht. Was heute gilt, ist morgen schon wieder
anders.«
Riegert nickte eifrig. »Du sagst es überdeutlich.
Kürzlich hat mir ein Bürger aus dem Wahlkreis gesagt, ihm komme Berlin wie ein großer
Ameisenhaufen vor. Jeden Tag stochere ein anderer darin rum – dann herrsche große
Aufregung und Geschäftigkeit und über Nacht kehre wieder Ruhe ein. Bis der Nächste
reinsteche – und der Zirkus aufs Neue losgehe.« Der Politiker genoss die letzten
Löffel Eis. »Man kann’s auch drastischer ausdrücken: Hier wird jeden Tag eine andere
Sau durchs Dorf getrieben.«
Eva lachte laut. Das hatte sie noch nie gehört.
Sie zögerte kurz, sah dann aber doch die Gelegenheit für ein Thema gekommen, das
sie schon lange hatte ansprechen wollen: »Hast du dir als Sportpolitiker schon mal
Gedanken darüber gemacht, welch große Hoffnung die Regierung in die Fußballweltmeisterschaft
setzt?«
Riegert unterdrückte ein Lachen. »Gedanken?«,
wiederholte er, »Eva, das Ding läuft schon lange. Diese Regierung hat sich von einem
Titel-Gewinn positive Signalwirkungen auf die Bundestagswahl erhofft. Pech nur,
dass die NRW-Wahl alles durcheinander gebracht hat. Aber egal, wer nächstes Jahr
an der Macht ist, wir könnten den Titelgewinn gut gebrauchen, keine Frage. Psychologen
glauben sogar, es würde in der Bevölkerung zu einem neuen ›Wir‹-Gefühl führen –
und diese Lethargie beseitigen, die sich wie ein Leichentuch über diese Republik
gelegt hat.« Der
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