Schuster und das Chaos im Kopf - Kriminalroman
sah er einen Mann direkt vor sich. Er neigte seinen Kopf langsam nach unten und sah Beine. Beine, auf die er sehr lange starrte, bis er endlich begriff, dass es seine eigenen waren.
Er kannte den Mann. Aber woher?
»Sie haben Durst, hab ich Recht?« Der Mann lächelte.
»Natürlich. Sie müssen ja fast verdurstet sein.« Der Mann verschwand aus seinem Blickfeld.
Etwas wurde an seine Lippen gehalten. »Aber vorsichtig. Sie wollen sich doch nicht verschlucken.«
Es war Wasser, das seine ausgetrocknete Kehle hinunterrann, warmes Wasser. Es war ihm egal, er wollte nur seinen unerträglichen Durst stillen. Er hätte auch warme Milch oder Kamillentee getrunken.
Nach wenigen Schlucken wurde das Glas wieder weggenommen, und er stöhnte auf. »Sie werden sich sonst verschlucken, Heiner. Wie fühlen Sie sich?«
Er wusste nicht, wie er sich fühlte. Und ob er sich überhaupt fühlte. Auf alle Fälle schien er am Leben zu sein.
Er saß auf einem Stuhl, wie es schien. Er war an den Händen gefesselt. Er trug hellblaue Jeans, das hatte er sehen können. Sie waren etwas schmutzig an den Knien. Sein Herz schlug, das konnte er deutlich spüren. Und es war heiß, viel zu heiß.
Der Mann legte eine warme Hand auf sein Gesicht. »Oh, das fühlt sich aber gar nicht gut an. Ich glaube, Sie haben Fieber.« Er verschwand wieder, kam kurz darauf zurück, und Schuster wurde etwas Weißes, Längliches in den Mund gesteckt.
Wieder hatte er instinktiv die Lippen geöffnet. Es schmeckte scheußlich, bitter und roch nach Mörtel. Warum hatte er seinen Mund geöffnet? Er verzog das Gesicht und schüttelte sich leicht.
»Schön schlucken. So ist’s gut.«
Er schluckte, das Zeug blieb aber in seinem ausgetrockneten Hals hängen.
Der Mann nickte. »Braver Junge.«
Wieder wurde ihm ein Glas an die Lippen gesetzt und alles in ihm schrie nach Wasser. Er versuchte hastig, alles auszutrinken. Er schaffte es aber nicht, bereits nach wenigen Schlucken wurde das Glas wieder weggenommen.
»Ich glaube wirklich, Sie haben Fieber, Heiner. Hohes Fieber. Ich weiß nicht, ob die Tabletten wirken. Ich hoffe es.«
Schuster dämmerte bereits wieder vor sich hin, immer wieder fielen ihm die Augen zu, so sehr er sich auch bemühte, sie offen zu halten. Er spürte noch, wie Hände nach ihm griffen, ihn packten und er weggezerrt wurde.
Zwei Tage war Schuster jetzt verschwunden. Und es gab nicht das geringste Lebenszeichen. Sein Handy war weiterhin ausgeschaltet, und sein Auto war spurlos verschwunden, genau wie er selbst.
Man hatte mehrere Suchtrupps losgeschickt. Vor seiner Wohnung lauerten die Presse und mehrere Fotografen. Ob sie darauf hofften, dass er plötzlich mit einer Tüte Brötchen unterm Arm an ihnen vorbeischleichen würde?
Lahm hatte in diesen zwei Tagen kaum geschlafen. Sobald er sich hinlegte, hatte er das Gefühl, es könnte irgendetwas passieren, und er kletterte wieder aus dem Bett.
Die Ungewissheit war kaum auszuhalten.
Wo steckte Schuster? Was war überhaupt geschehen? Ging es ihm gut, da wo er war?
War er vielleicht längst ...?
Nein, diesen Gedanken klammerte er komplett aus.
Seitdem Schuster verschwunden war, quälte sich Lahm mit einem merkwürdig schlechten Gewissen herum. Er hatte seinen Kollegen jahrelang belächelt, sich über ihn lustig gemacht und kein gutes Haar an ihm gelassen. Gern hätte er ihm gesagt, dass er sich deswegen schämte, dass er ein Idiot gewesen war.
Inzwischen ertappte sich Lahm nämlich hin und wieder dabei, dass er Schuster sogar sympathisch fand. Ihm war auch aufgefallen, dass sie mehr gemeinsam hatten, als er je gedacht hatte.
Und nun war Schuster verschwunden, und Lahm beschlich in manchen Momenten das scheußliche Gefühl, dass er womöglich keine Gelegenheit mehr bekommen würde, reinen Tisch zu machen.
Der Mann kam wieder, packte Schuster und drehte ihn auf die andere Seite. Und Schuster, ganze 1,91 Meter groß und 84 Kilo schwer, ließ es geschehen.
Noch immer hatte er Fieber. Oft bekam er eine weiße Tablette. Manchmal noch eine hellblaue, dann konnte er einigermaßen schlafen. Und noch immer litt er unter quälendem Durst. Er durfte nie mehr als zwei, drei Schlucke trinken, und er verstand nicht, warum. Sein Erinnerungsvermögen war so gut wie ausgelöscht, quasi nicht mehr vorhanden. In seinem Geist drehte sich alles nur um Durst, Wasser, Schmerzen und Hitze.
Der Mann, der immer lächelte, stand vor ihm und steckte ihm wieder eine dieser weißen Pillen in den Mund.
»So ist es gut,
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