Schutzengel mit ohne Flügel
kostete.
»Es geht aufs Haus. Hier sind seit Jahrzehnten keine so blutigen Männer mehr vorbeigekommen, zuletzt war es 1918, zu Großvaters Zeiten. Wir sind eine alte Kaufmannsfamilie.«
Aus der Ferne ertönte die Sirene des Krankenwagens, der auch bald schon auf den Hof einschwenkte. Oskari leerte seine Bierdose und half dem Fahrer, Aaro auf die Trage zu heben. Er selbst setzte sich nach vorn auf den Beifahrersitz.
Zum Bezirkskrankenhaus von Seinäjoki waren es dreißig Kilometer. Der Fahrer schaltete die Blinkleuchte ein und trat aufs Gaspedal. Seltsamerweise beschleunigte der Wagen nicht wie gewohnt, sondern fuhr maximal Tempo siebzig.
»Verdammt, was ist los, wieso kommt die Kiste nicht«, wunderte sich der Sanitäter.
Der Grund war klar: Sulo Auvinen hatte aus dem Unglück von vorhin seine Lehren gezogen und sorgte jetzt dafür, dass wenigstens der Krankenwagen nicht zu schnell fuhr und, wie der Leichenwagen, im Graben landete. Der Schutzengel hielt in diesem Falle eine Geschwindigkeit deutlich unter 100 km/h für angemessen und sicher.
Auch bei diesem Tempo erreichten sie das Bezirkskrankenhaus, allerdings erst am Nachmittag. Aaro und Oskari wurden untersucht, ihre Wunden wurden gesäubert und genäht, und anschließend brachte man beide auf die Bettenstation. Bei Aaro vermuteten die Ärzte eine Gehirnerschütterung, Oskari war besser dran.
Aaro Korhonen schlief ein und wachte erst auf, als das Abendbrot gebracht wurde. Als er gegessen hatte, fiel ihm ein, Viivi in Helsinki anzurufen. Er erzählte ihr kurz von dem Unfall. Sie erschrak mächtig, wies Aaro an, im Bett zu bleiben, und versprach, auf der Stelle nach Seinäjoki zu kommen und sich um alles zu kümmern.
Am nächsten Morgen erschien eine besorgte Viivi Ruokonen im Krankenzimmer. Sie hatte einen geräumigen Lieferwagen gemietet und war ohne Halt von Helsinki direkt nach Seinäjoki gefahren. Außerdem hatte sie auch Lindell angerufen und ihm erzählt, dass sie beabsichtigte, sich über das Unfallgeschehen zu informieren.
Oskari hatte sich so weit erholt, dass er in der Lage war, Viivi auf den Acker zu begleiten und ihr beim Einsammeln der Bücher zu helfen. Zunächst mussten sie allerdings auf die Polizei warten, die dann auch eine halbe Stunde später erschien. Der örtliche Konstabler befragte Aaro und Oskari über das Geschehen. Aaro berichtete, dass seiner Meinung nach das Gaspedal geklemmt hatte und dass er deshalb eine unfreiwillige Vollgasfahrt hatte machen müssen. Er wäre ansonsten nie mit Tempo zweihundert gefahren und schon gar nicht an einem Bahnübergang.
»Bei langsamerem Tempo wären wir unter den Zug geraten«, mit dieser Bemerkung versuchte Oskari das Ganze abzumildern.
Der Polizist notierte sich: Gibt zu, den Leichenwagen mit 200 km/h gefahren zu haben. Ursache war klemmendes Gaspedal.
9
NORDISCHE STIMMUNG
AM LAGERFEUER
Die Versicherung holte den Leichenwagen ab. Viivi verfrachtete die Bücher und die beiden Männer nach Helsinki. Auch Aaros Gehirnerschütterung besserte sich, und so konnten sie gemeinsam darangehen, ihr Antiquitätengeschäft mit Antiquariat einzurichten. Oskari trug Hilma Väisänens Bücher und alten Möbel nach unten ins Erdgeschoss. Aaro putzte die Schaufenster und arrangierte hinter den Scheiben einige Bücher, die ihm in die Hände gefallen waren und von denen er annahm, dass sie die Passanten interessierten: Kaarina Karis Die Eroberung von Halt (Kisakalliostiftung 1978), Stig Jägerskiölds Gustav Mannerheim 1906-1917 (Otava 1965), Katriina Jauhola-Sorjonens Sibeliushaus (Edita 2000), mehrere Pekka Lipponens und Kalle-Kustaa Korkkis aus der Outsider-Reihe sowie Michail Bulgakows Der Meister und Margarita (WSOY 1968).
Schutzengel Sulo Auvinen sah seinem Schützling beifällig lächelnd beim Dekorieren zu. Wie wahr!, dachte er triumphierend beim Anblick von Bulgakows Buch, der Satan hatte seinen Job in Moskau so ungemein gründlich erledigt, dass das ganze damalige System an seiner eigenen Unmöglichkeit zugrunde gegangen war. Zum Glück war jetzt eine neue Zeit angebrochen, und der Satan hatte keinen Platz mehr in Europa, jedenfalls nicht in Helsinki, wo neuerdings die Engel herrschten. Sulo Auvinen war nach Helsinki gekommen, sagte sich der ehemalige Religionslehrer zufrieden.
Viivi eröffnete das Café ohne Genehmigung, die Kuchen und Torten bezog sie von Ahlenius in der Merikatu, dem besten Zuckerbäcker der nordischen Länder.
Aaro Korhonen hatte das Gefühl, das Ziel seines Lebens
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