Schutzengel mit ohne Flügel
Weichensystem durcheinandergeriete und der Zug auf andere Schienen gelenkt würde. Hinter Kouvola würde die Fahrt dann nicht mehr auf der offiziellen Strecke nach Helsinki weitergehen, sondern die Lok würde pfeifend in eine andere Richtung rattern, etwa nach Tampere oder Oulu, ganz egal. An so einem Knotenpunkt gab es genug Alternativen.
Sulo Auvinen setzte seine prima Idee auch sofort in die Tat um. Es war ganz leicht, in den Computer der Staatsbahn einen munteren Virus einzuschleusen, der sich des Weichensystems bemächtigte und es neu ordnete. Sulo war stolz auf seine Leistung. Der Schnellzug aus Karelien fuhr donnernd in den Bahnhof ein und stoppte, so wie es sein sollte. Neue Reisende stiegen zu, aber als der Zug weiterfuhr, schwenkte er auf das Gleis nach Tampere ein. Der Lokführer erhöhte das Tempo und bemerkte eine Weile nichts Besonderes. Als der Zug bereits mit mehr als hundert Stundenkilometern in Richtung Tampere unterwegs war, packte den Lokführer das Entsetzen. Notbremsung! Die Folge war, dass der letzte Wagen, in dem Ritva Nuutinen und die deutschen Kriegsveteranen saßen, aus den Schienen sprang und qualmend in den Wald donnerte. Die alten Männer verletzten sich, zwei Feldwebel starben an einem Herzschlag, aber das Fräulein kam mit wenigen Schäden davon. Die Unglücksstelle wurde alsbald freigelegt, die Verletzten brachte man mit Krankenwagen in die nächstgelegenen Kliniken. Die beiden toten Veteranen wurden ins Leichenschauhaus von Lahti abtransportiert. Fräulein Nuutinen hatte eine Beule an der Stirn und einen großen blauen Fleck auf dem Oberschenkel, zum Glück über dem Rocksaum. Sie humpelte durch die Gänge des Zentralkrankenhauses von Lahti und rief in Lieksa und Helsinki an. Daraufhin untersagte man ihr, mit dem Handy zu telefonieren, denn im Krankenhaus durften keine elektronischen Geräte benutzt werden. Das Fräulein ging auf den Hof hinaus und meldete sich bei Aaro Korhonen. Sie erzählte ihm von dem Zugunglück und meinte, dass es vermutlich auch bald in den Rundfunknachrichten erwähnt würde.
Aus Helsinki war ebenfalls nichts Gutes zu vermelden. An Mittsommer hatte Aaro zusammen mit seinen Freunden eine kleine Villa in den Schären abgefackelt, und ein Boot war verloren gegangen. Die Dacharbeiten in der Mechelininkatu 15 ruhten noch wegen der Feiertage.
Fräulein Nuutinen berichtete, dass bei dem Zugunglück zwei deutsche Kriegsveteranen ums Leben gekommen seien. Das wäre doch ein prima Auftrag für das Bestattungsinstitut Lindell, die Deutschen stammten aus der Nähe von Berlin, dorthin könnte Lindell sie kutschieren. Die Nuutinen versprach, alles Entsprechende in Lahti zu veranlassen, wenn Oskari Mättö und Lindell das Weitere in Helsinki besorgen würden. Aaro erklärte, dass er eigentlich keine Zeit hatte, tote deutsche Kriegshelden nach Berlin zu chauffieren, worauf Fräulein Nuutinen drohte, sich in dem Fall selbst ans Steuer zu setzen. Sie besaß einen gültigen Führerschein und hatte reichlich Erfahrung im Lieksaer Straßenverkehr gesammelt. Aaro seufzte und versprach, die Tour nach Deutschland zu machen.
Von den an Herzanfällen gestorbenen Deutschen hatte der verlorene Krieg am Ende ihres Lebens das größtmögliche Opfer gefordert, sie hatten ihr teures Leben eingebüßt.
Der Schutzengel schwebte in düsterer Stimmung über dem Unglücksort. Alles schien zu misslingen. Doch er beschloss, mit noch größerem Einsatz weiterzumachen und dafür zu sorgen, dass nichts Schreckliches mehr passierte.
Der Teufel begrüßte freudig die Nachricht vom großen Zugunglück. Er musste gezwungenermaßen anerkennen, dass Aaro Korhonens Beschützer ein unglaublicher Schädling war. Ein Feind ohnegleichen. Für eine solche Begabung gäbe es in der Hölle mehr als genug zu tun.
Als dem Engel Gabriel alias Unteroffizier Kalle Määttä in Kerimäki die Nachricht von Sulo Auvinens neuesten Heldentaten, dem Feuer und dem Zugunglück, bei dem zwei deutsche Kriegsveteranen gestorben und zwanzig verletzt worden waren, überbracht wurde, schnaubte er als alter Held des Winterkrieges nur:
»Das sind doch Kleinigkeiten, verglichen mit all den großen Unglücken … Manchmal kippen sogar Schiffe um.«
24
EINE FLOTTE SCHIFFSFAHRT NACH ROSTOCK
Viivi Ruokonen war wütend auf Aaro Korhonen, als sie hörte, dass Fräulein Nuutinen wieder beabsichtigte, nach Helsinki zu kommen. Besonders ärgerte sie sich darüber, dass jene sich frech mit einmischte, wenn die Leichen deutscher,
Weitere Kostenlose Bücher