Schutzlos: Thriller (German Edition)
durch.«
Tränen liefen ihr übers Gesicht. Cheryl atmete schwer, als sie sich zwanghaft bückte und Kinderpyjamas und andere Kleidung vom Boden aufhob. Ich hatte sie bei einer Waschaktion gestört.
»Wir wissen, dass er eine Drogengeschichte überwacht, aber der Koordinator in der Zentrale wusste nicht, wo. Haben Sie eine Ahnung, wo er ist? Hat er etwas zu Ihnen gesagt?«
»Ja, ja.«
»Wo?«
Sie nannte mir den Ort. Dann fügte sie an. »Aber warum kommen Sie nicht zu ihm durch? Was ist passiert?«
»Das weiß ich nicht«, sagte ich ernst. »Aber nicht weit entfernt von dort gibt es einen mobilen Kommandoposten. Warten Sie. Ich schicke ihnen eine SMS.«
Ich sah auf mein Handy hinab, tippte in das Tastaturfeld, drückte auf SENDEN. Ich spürte ihre Anspannung, während sie vor- und zurückschaukelnd auf das Gerät starrte.
»Bitte …«
Dann blickte ich auf und lächelte. »Er ist dort, es geht ihm gut. Das Funkgerät war kaputt, weiter nichts. Unsere Versorgungsabteilung bringt ihm gerade ein neues.«
»Oh, Gott sei Dank.« Die Tränen flossen noch ein wenig weiter.
»Tut mir leid, dass ich Sie beunruhigt habe.«
»Nein, nein. Und er ist okay?«
»Ja, es geht ihm gut«, wiederholte ich. »Entschuldigen Sie die Schrecksekunde. Ach ja, aber tun Sie mir einen Gefallen?«
»Ja, sicher, was Sie wollen.«
»Er befindet sich mitten in einer Überwachungsaktion. Es wäre besser, wenn Sie ihn erst morgen früh anrufen würden.«
»Natürlich. Ich bin ja so erleichtert, ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie. So erleichtert«, wiederholte sie manisch und wischte sich die Tränen fort.
Ich verließ das Haus und ging zu meinem Wagen zurück; der Kies knirschte unter meinen Füßen, und der Brandgeruch umwehte mich.
Ein Aspekt von Brettspielen, der mir gefällt, ist, dass man die Rolle von jemand anderem spielen kann. In dem klassischen deutschen Spiel Die Siedler von Catan zum Beispiel, das der berühmte Klaus Teuber geschaffen hat, ist man genau dies – ein Siedler auf einer mythischen Insel. Um zu gewinnen, muss man die Ressourcen erfolgreicher und schneller als sein Gegner erschließen. Bei Agricola , einem weiteren deutschen Spiel, hat man vierzehn Züge, um der erfolgreichste Bauer unter seinen Mitspielern zu werden. In Spielen nach amerikanischer Art, die tendenziell kriegerischer sind als europäische, kann man vielleicht zum General oder Admiral aufsteigen.
Bei meiner Tätigkeit als Schäfer muss ich mich ebenfalls von Zeit zu Zeit auf das Gebiet der Fiktion begeben. Meistens genieße ich die Schauspielerei, vor allem, wenn sie zu einem positiven Ergebnis führt, das dazu beiträgt, meine Mandanten zu schützen, so wie bei meiner Vorstellung für Stu Graham vorhin.
Aber manchmal komme ich mir nach so einem Rollenspiel auch schmutzig, billig vor.
Die Vorstellung, die ich soeben abgeliefert hatte, gehörte zu dieser Kategorie.
Dass sie unvermeidlich gewesen war, verringerte nicht die Wahrscheinlichkeit, dass mich das angsterfüllte, von Tränen überströmte Gesicht der Frau bei der Nachricht, die ich ihr zunächst überbracht hatte, lange Zeit verfolgen würde.
38
Um kurz nach zweiundzwanzig Uhr traf ich wieder im sicheren Haus in Great Falls ein und absolvierte das Code-Ritual, damit sich die Zugbrücke herabsenkte.
Sobald ich auf dem Gelände war, bemerkte ich einen zweiten Wagen, dessen Motor lief. Am Steuer saß ein junger Mitarbeiter aus unserer Organisation.
Er sah mich, stellte den Motor ab und stieg aus. Der gepflegte, etwa dreißigjährige Afroamerikaner nickte und kam zu mir auf die Vorderveranda. Ich sah, wie seine Nase zuckte, als er näher kam, und mir wurde klar, dass ich mich an den Brandgeruch gewöhnt hatte. Ich nahm ihn gar nicht mehr wahr.
»Hallo, Geoff.«
»Corte. Alles in Ordnung?«
»Ja.« Ich blickte in seinen Wagen, auf dessen Beifahrersitz ein weiterer junger Mann saß; er hatte einen runden Kopf mit Bürstenschnitt, und seine Augen musterten mich kurz, ehe sie wieder das Gelände absuchten.
»Wir haben hier draußen gewartet, wie Sie sagten.«
Geoff hatte einen Special Agent des FBI namens Tony Barr von einem Treffpunkt auf halbem Weg zwischen hier und seinem Haus abgeholt, einem Ort, auf den Freddy und ich uns geeinigt hatten. Da der Waffenstillstand mit Westerfield ziemlich wacklig war, hatte ich beschlossen, niemandem außerhalb meiner Organisation den Ort des sicheren Hauses direkt zu verraten. Ich befürchtete, der Staatsanwalt könnte ihn erfahren und
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