Schutzlos: Thriller (German Edition)
ihr Gegenüber? Wenn Sie dagegen allein sind, beobachten sie mehr andere Leute, als dass sie auf ihr Essen sehen.«
»Aber Ryan hat nichts davon gesagt, dass der Fall eingestellt wird«, sagte ich. »Ich habe gerade im Hillside mit ihm darüber gesprochen.«
»Er wusste es wahrscheinlich nicht. Seine Assistentin hat mir erzählt, dass er am Donnerstag und Freitag außerhalb des Büros an einer Verwaltungsgeschichte gearbeitet hat. Nächste Woche gibt es eine wichtige Sitzung, bei der es darum geht, das Buchhaltungsverfahren bei der Metropolitan Police auf Vordermann zu bringen.«
Ich erinnerte mich, dass Ryan von einer Art internem Auftrag gesprochen hatte.
»Ist der Fall Graham damit von Ihrer Liste der potenziellen Auftraggeber gestrichen?«, fragte sie.
»Nein. Ganz im Gegenteil. Niemand lässt vierzigtausend Dollar einfach so liegen, wenn er nicht dazu gezwungen wird.« Ich aß noch ein wenig von meinem Sandwich.
»Dunch oder Linner«, sagte DuBois. »Es gibt keinen Begriff für eine Mahlzeit am Nachmittag, die dem Brunch entspricht.« Sie machte keinen Witz.
»Wie ist Ihr Eindruck von Graham?«, fragte ich.
DuBois dachte nach. »Durcheinander. Ausweichend.«
»Jemand setzt ihn unter Druck, damit er die Sache fallen lässt?«
»Möglich. Die Grahams verdienen nicht allzu viel Geld. Ohne die vierzigtausend wird sein Sohn nicht wieder nach Princeton gehen. Ich an seiner Stelle würde alles tun, damit der Täter dingfest gemacht wird.«
Einige Szenarien entfalteten sich vor meinem geistigen Auge. »Okay, der Auftraggeber fälscht den Scheck und bekommt das Geld. Er gibt es für etwas Kompromittierendes aus – eine Spende an eine radikale Moschee, einen großen Kokainkauf, Prostitution, wer weiß? Gibt sich vielleicht als Graham aus. Das Geld kann zurückverfolgt werden. Der Auftraggeber sagt: Verschaff mir Zugang zu geheimen Akten oder sabotiere das System, auf dem du arbeitest, sonst ruiniere ich dein ganzes Leben und bringe dich ins Gefängnis. Graham ist einverstanden. Nur Ryan ist noch an dem Fall dran. Der Auftraggeber heuert Henry Loving an, um herauszufinden, was er weiß.«
»Klingt plausibel«, sagte DuBois.
»Jetzt den anderen Fall. Das Schneeballsystem.«
DuBois richtete den Blick ihrer leuchtend blauen Augen auf ihre Unterlagen.
Ich hatte die Masche »Schneeballsystem« gegoogelt, obwohl ich natürlich wegen der Madoff-Sache ein wenig darüber wusste; man konnte keine Nachrichten schauen, ohne etwas zu erfahren. Im Prinzip ging es darum, dass sich ein Betrüger als Investmentberater ausgab und Geld von Leuten einnahm, das er angeblich investieren wollte. Er behielt das Geld für sich, verschickte aber Kontoauszüge, die einen Wertzuwachs des Investments verkündeten. Wenn die frühen Investoren ihr Geld haben wollten, zahlte sie der Betrüger mit später investiertem Geld aus – eine Masche, die so lange funktioniert, wie nicht alle Investoren
ihr Geld gleichzeitig haben wollen. Sie flog normalerweise auf, wenn Kunden nervös wurden und es zu einem Run auf den Fonds kam. Handeln mit rationaler Irrationalität, nach den Begriffen des Gefangenendilemmas.
»Also, der Verdächtige, Clarence Brown …«, begann DuBois.
»Der Versandhandelsreverend«, unterbrach ich.
»Nicht direkt. Ich habe seine Internetkirche überprüft und …«
»Internetkirche?« Das hatte ich noch nie gehört.
»Ja. Die Post kommt nicht vor. Man kann sein geistliches Diplom herunterladen und ausdrucken. New Zion Church of the Brethren Dotcom. Jeder kann es tun, Sie, ich. Ich wollte sehen, ob es der Schwindel ist, nach dem es aussieht, und ich war ruckzuck auf halbem Weg zum Priester. Na ja, zur Priesterin wohl eher. Dann wollten sie natürlich richtig Geld sehen, und ich habe mich wieder ausgeloggt.« An ihrem Kettchen gab es ein Kreuz, einen Davidstern und einen islamischen Halbmond. Eine Katze mit extrem krummem Rücken neben einem Hexenhut. DuBois war nicht leicht festzulegen.
»Weiter, Claire.«
»Er ist ein falscher Reverend, aber das ist noch nicht das Interessanteste daran. Wie ich herausgefunden habe, ist ›Clarence Brown‹ ein Pseudonym. Er heißt in Wirklichkeit Ali Pamuk.«
»Ist er vorbestraft?«
»Ich glaube nicht. In den üblichen Datenbanken findet sich keine Vorstrafe. Aber ich lasse seine Geschichte von ein paar Freunden genauer ansehen. Besonders interessiert mich, ob es Belege für Pseudogeschäfte gibt. Ich muss Sozialversicherungsnummer, Adresse, Telefonunterlagen, Bankauszüge und
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