Schutzlos: Thriller (German Edition)
überlegte, dass es mir ebenfalls schwerfallen würde, meine jetzige Tätigkeit aufzugeben, keine Spiele mehr gegen Leute wie Henry Loving spielen und nicht mehr mit meinen Mandanten zusammen sein zu können.
Aber das sagte ich Joanne natürlich nicht. Ich musste immer auf der Hut sein, dass ich gegenüber den Leuten in meiner Obhut nichts von mir preisgab. Es wäre unprofessionell. Sie könnten etwas über einen ausplaudern – falls sie einem Lifter in die Hände fielen oder wenn sie gegenüber der Presse redeten. Es gibt einen weiteren Grund. Die Wege von Schäfern und Mandanten trennen sich wieder. Das ist so sicher wie die Jahreszeiten. Es ist besser, keine Bindung herzustellen, das Risiko emotionaler Verletzung zu minimieren. Deshalb riet uns Abe Fallow auch, die Leute immer nur als »meine Mandanten« zu bezeichnen.
»Lass sie anonym bleiben, Corte. Das ist ein zweidimensionales Geschäft. Du musst als Person eine Pappfigur bleiben. Und so musst du auch sie sehen. Bring nur das über sie in Erfahrung,
was du wissen musst, um sie am Leben zu halten. Benutze ihre Namen nicht, schau dir keine Bilder ihrer Kinder an, frag sie nicht, ob sie in Ordnung sind, es sei denn, ihr seid unter Beschuss geraten und du musst einen Arzt rufen.«
Die Ironie dabei ist jedoch, dass die Mandanten liebend gern mit uns Schäfern reden. Ach, und wie gern sie sich mitteilen. Teilweise ist es die Erinnerung an ihre Sterblichkeit, die sie in eine redselige Stimmung versetzt. In eine Stimmung für Geständnisse häufig. Sie haben Dinge falsch gemacht in ihrem Leben – wer hätte das nicht? –, und sie wollen ihre Schuldgefühle besänftigen, indem sie reden. Noch wichtiger ist aber, dass ich keine Gefahr darstelle. Ich trete für zwölf oder achtundvierzig Stunden in ihr Leben, oder höchstens für ein paar Wochen. Am Ende dieser Zeit gehe ich wieder und werde ihre Geheimnisse nie vor ihren Freunden oder Angehörigen wiederholen können.
Also höre ich zu und nicke, ohne besonders ermutigend zu sein, und ich urteile in keiner Weise. Zum Teil geschieht das natürlich aus Berechnung. Je mehr sie von mir abhängen und mir trauen, desto eher werden sie genau das tun, was ich ihnen sage – sofort und ohne Fragen zu stellen.
Joanne blickte auf meinen Laptop, obwohl ich ihn so gedreht hatte, dass sie den Schirm nicht sehen konnte. »Welcher von Ryans Fällen, glauben Sie, ist es?«, fragte sie.
»Meine Mitarbeiterin untersucht sie gerade.«
»Um zehn Uhr an einem Samstagabend?«
Ich nickte.
»Ryan spricht nicht viel über seine Arbeit mit mir. Man sollte meinen, es dürfte ziemlich offensichtlich sein, wer der Auftraggeber ist, wie Sie sagen.«
»Sie meinen, weil viel auf dem Spiel stehen muss, damit es sich lohnt, jemanden wie Loving anzuheuern?«
»Ja.«
»Das stimmt. Aber manchmal weiß man es einfach nicht. Ich
hatte viele Aufträge, bei denen die Identität des Auftraggebers eine große Überraschung war.«
Maree erschien, schenkte sich ein Glas Wein ein und kam zu uns.
»Ist das Zimmer in Ordnung?«, fragte ich.
»Sehr à la Martha Stewart, Mr. Tour Guide. Alte Gemälde von Pferden. Massen von Pferden. Sie haben dürre Beine. Dicke Pferde mit dürren Beinen. Ich frage mich, ob sie damals wirklich so ausgesehen haben. Man sollte meinen, sie müssten ständig umgefallen sein.«
Joanne lächelte – es war eine Beobachtung, die einer Claire DuBois würdig gewesen wäre.
»Wie komme ich ins Internet?«, fragte Maree nun. »Ich muss meine E-Mails checken.«
»Ich fürchte, das können Sie nicht.«
»O nein, nicht wieder die Spionagenummer. Bitte. Darf ich betteln?« Sie sagte das mit diesem neckisch-verschämten Teenagerglitzern in den Augen. Und ihre Lippen schmollten natürlich bewundernswert.
»Tut mir leid.«
»Warum nicht?«
»Wir müssen davon ausgehen, dass Loving Ihren Account gefunden hat. Wenn Sie Nachrichten lesen oder welche verschicken, ist es ihm möglich, die Zeit mit dem Router- und Serververkehr hier in der Gegend in Beziehung zu setzen.«
»Corte, schauen Sie in vier Richtungen, ehe Sie die Straße überqueren?«
»Maree«, sagte Joanne tadelnd. »Also wirklich.«
»Ach, bittebitte.«
»Nur eine Vorsichtsmaßnahme.« Sie machte plötzlich eine ernste Miene, dazu nickte sie mit dem Kopf. »Was ist los?«, fragte ich.
»Wenn ich meinen Masseur nicht hierher bestellen kann,
dann schuldet mir jemand eine Massage … Sagen Sie, Mr. Tour Guide, steht das in Ihrer Arbeitsplatzbeschreibung?« Ich
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