Schutzlos: Thriller (German Edition)
musste sie ausdruckslos angesehen haben. »Sie scherzen nicht viel, oder?«
»Maree«, sagte ihre Schwester streng. »Jetzt gib schon Ruhe.«
»Im Ernst«, sagte sie zu mir. »Ich würde nur gern einige E-Mails versenden. Ich muss ein paar Bilder wegen einer Ausstellung an eine Galerie schicken.«
»Wenn es wirklich wichtig ist, kann ich sie verschlüsseln, an unsere zentrale Kommunikationsabteilung schicken und über ein paar Proxys in Asien und Europa umleiten lassen.«
»Ist das jetzt ein Scherz?«
»Nein.«
»Andere Leute würden die E-Mails also lesen?«
»Drei oder vier, ja. Und ich.«
»Dann werde ich mich wohl für die aufregende Alternative entscheiden und… ins Bett gehen.« Sie drehte sich trotzig um und verschwand in dem schwach beleuchteten Korridor.
Joanne sah ihrer Schwester nach. Marees schmale Hüften schwangen unter dem dünnen Rock, als sie mit gleichmäßigen, fast koketten Schritten entschwand.
»Was nimmt sie?«, fragte ich.
Joanne zögerte. »Ein Antidepressivum.«
»Sonst noch etwas?«
»Vielleicht ein Lorazepam. Oder zwei oder drei.«
»Und?«
»Nichts Verschreibungspflichtiges. Sie war nie versichert, deshalb sehe ich ihre Arzneirechnungen. Weil ich sie bezahle … Woher wussten sie es?«
»Die Sprache, teilweise ihr Verhalten. Ich habe das mit den Krankenhauseinlieferungen herausgefunden. Es waren zwei, oder?«
Joanne lachte verhalten. »Das wissen Sie?«
»Meine Mitarbeiterin hat sich alles angesehen, was von Belang sein könnte. Waren es Selbstmordversuche? Aus den Berichten habe ich das gefolgert.«
Joanne nickte. »Der Arzt sagte, mehr eine Geste als ein Versuch. Sie war von ihrem Freund sitzen gelassen worden. Na ja, er war nicht einmal richtig ihr Freund. Sie waren nur seit etwa einem halben Jahr miteinander ausgegangen, aber sie war bereit, mit ihm zusammenzuziehen und Kinder von ihm zu bekommen. Sie kennen das ja vermutlich.«
Ihre Stimme verebbte, und sie musterte mich, als würde ich es möglicherweise nicht kennen. Ryan hatte ihr wahrscheinlich erzählt, dass ich ein Single ohne Kinder war.
»Ein Abschiedsbrief, eine kleine Überdosis«, fuhr sie fort. »Beim zweiten Mal dasselbe. Ein bisschen schlimmer. Ein anderer Mann. Ich wünschte, sie wäre bei ihrer Therapie so obsessiv wie bei ihren Männern.«
Ich warf einen Blick in den Flur, dann fragte ich leise. »War es Andrew, der sie verletzt hat?« Ich berührte leicht meinen Arm.
Joannes Augenlider flatterten. »Sie sind gut …« Sie schüttelte den Kopf. »Ehrlich gesagt, weiß ich es nicht. Er hat ihr schon manchmal wehgetan, früher. Einmal hat er sie sogar ins Krankenhaus gebracht. Sie hat es als Unfall ausgegeben. Das tun Misshandlungsopfer immer. Oder sie sagt, es war ihre Schuld. Diesmal klang es aber ziemlich überzeugend, als sie sagte, dass sie jemand über den Haufen gerannt habe. Aber ich weiß es einfach nicht.«
»Und die weitergeleitete Post? Hat sie mit Andrew Schluss gemacht und ist zu Ihnen gezogen?«
Joanne fing ihr Spiegelbild in einem alten, grindigen Spiegel auf und schaute weg. »Richtig. Andrew hat vieles, was man sich nur wünschen kann. Er hat Talent, sieht gut aus und hält meine Schwester für talentiert. Oder jedenfalls sagt er es zu ihr. Aber er ist außerdem eifersüchtig und gebieterisch. Er hat sie überredet,
ihren Brotjob aufzugeben und mit ihm zusammenzuziehen. Das ging ein paar Monate. Er war die ganze Zeit aggressiv zu ihr, aber als sie auszog, wurde er noch aggressiver. Gott sei Dank wohnen wir in der Gegend. Sie hatte einen Ort, an dem sie Unterschlupf finden konnte, als sie absprang.«
Maree, die nach DuBois’ Informationen als Marie getauft worden war und ihren Namen nie offiziell geändert hatte, war als Teenager außerdem bei der Polizei aktenkundig geworden, weil sie von zu Hause ausgerissen war, und es hatte ein paar Anklagen wegen Drogenvergehen und Ladendiebstahls gegeben, die alle fallen gelassen wurden. Anscheinend hatten die Jungs, mit denen sie zusammen gewesen war, sie zum Mitmachen gezwungen und dann versucht, sie allein alles ausbaden zu lassen.
Nichts davon war allerdings für meinen Job oder die Unterhaltung, die wir gerade führten, relevant; deshalb äußerte ich mich nicht dazu.
»Sie machen also Ihre Hausaufgaben, hab ich recht?«
»Für die Arbeit? Ja.«
Joanne, die nicht mehr zu scherzen schien als ich, lächelte kurz. »Was haben Sie über mich herausgefunden?«
Ich wusste nicht, was ich antworten sollte. DuBois’ Recherchen
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