Schutzlos: Thriller (German Edition)
über Joanne hatten ein Leben zutage gefördert, an dem absolut nichts bemerkenswert war. Sie war eine verantwortungsbewusste Schülerin, Studentin, Statistikerin und Hausfrau gewesen. Sie war im Elternbeirat von Amandas Schule aktiv. Die einzigen Ereignisse, die in vier Jahrzehnten der Routine positiv wie negativ herausragten, waren für sich genommen nicht ungewöhnlich: zum Beispiel eine Rucksackreise nach Übersee vor dem Studium – vermutlich der Höhepunkt ihrer jungen Jahre – oder ein schwerer Autounfall vor Jahren, der monatelange Physiotherapie notwendig gemacht hatte.
»Ich habe herausgefunden, dass Sie diejenige sind, derentwegen ich mir keine Sorgen machen muss.«
Das Lächeln verschwand. Joanne hielt meinem Blick stand. »Sie würden einen guten Politiker abgeben, Corte. Gute Nacht.«
20
Um dreiundzwanzig Uhr, nachdem ich meine Runden durch das Haus gedreht hatte, ging ich nach draußen und ließ mich in einem Laubhaufen nieder. Ich begann das Grundstück mit einem Nachtsichtgerät abzusuchen. Das Gerät ist sehr teuer, aber das beste auf dem Markt. Wir hatten uns nur drei davon leisten können, und das letzte hatte ich mir vorhin ausgeliehen.
Normalerweise war das eine Arbeit, die ein Klon machte, aber ich war überzeugt, auch wir Schäfer sollten uns bei der Arbeit regelmäßig die Hände schmutzig machen. Abes Philosophie, natürlich – eine Überzeugung, so könnte man sagen, die ihn das Leben gekostet hat.
Ich konzentrierte mich darauf, nach allem Ausschau zu halten, was ungewöhnlich war. Meine Schultern waren verspannt. Ich atmete schwer. Ich begann lautlos vor mich hin zu murmeln: Schere, Stein, Papier… Schere, Stein, Papier…
Eingelullt vom Fließen der langsam ziehenden Wolkenschatten im Mondlicht begann ich mich zu entspannen. Nach vierzig Minuten waren meine Finger taub, und meine Armmuskeln zitterten vor Kälte, und ich ging zurück ins Haus.
Im Schäferschlafzimmer legte ich mein Holster ab und holte eine Flasche Gleitmittel aus meiner Sporttasche. Ich massierte ein wenig von dem Gel in das naturfarbene Leder. Die glatte Seite lag auf meiner Haut auf, die raue schaute nach außen. Ich musste das Leder eigentlich nicht bearbeiten – ich hatte gestoppt,
wie schnell ich die Waffe ziehen konnte, und es war akzeptabel –, aber es war eine Tätigkeit, die mich entspannte.
Als ich fertig war, erledigte ich meine Geschäfte im Badezimmer und rollte mich dann in dem massiven alten Bett zusammen, bei heruntergelassenen Jalousien natürlich, auch wenn die Wahrscheinlichkeit, dass ein Schütze aus der Reihe prächtiger alter Eichen auftauchte, um eine Kugel in das Zimmer zu jagen, ziemlich gering war.
Das Fenster war jedoch einen Spalt offen, und ich hörte das schwache Geräusch des Windes und das noch leisere Rauschen der eine halbe Meile entfernten Wasserfälle.
Ich habe Glück, weil ich fast überall schlafen kann, praktisch auf Befehl. Was besonders selten in meinem Job vorkommt, wie ich erfahren habe. Wenig überraschend leiden meine Mandanten unter Schlaflosigkeit. Ich wusste, ich würde bald wegdösen, aber im Augenblick war ich zufrieden, voll bekleidet, wenn auch ohne Schuhe, im Bett zu liegen, an die Decke zu starren und mir vorzustellen, wer früher in diesem Haus gewohnt hatte.
Es war um 1850 erbaut worden. Ich nahm an, es war ein Bauernhaus gewesen, mit hauptsächlich Hafer, Mais und Gerste auf den Äckern rundherum – Grundnahrungsmittel, nicht die Designer-Feldprodukte, die man heutzutage sieht. Ich stellte mir zu meiner Erheiterung eine Arbeiterfamilie im 19. Jahrhundert vor, die ihr Abendessen mit einem Salat aus Rucola und Spinat beginnt.
Obwohl das Grundstück heute zehntausend Bäume beherbergte, kannte ich die Ansicht von damals aus den Fotos von Mathew Brady und anderen. Ein großer Teil dessen, was heute Wald war im nördlichen Virginia, war zu Zeiten des Bürgerkriegs offenes Ackerland gewesen.
Great Falls war früh von der Armee der Union besetzt worden. In dieser Gegend hatten keine großen Schlachten stattgefunden, wenngleich nahezu viertausend Soldaten entlang der
heutigen Route 7 und der Georgetown Pike aufeinandertrafen, was zu fast fünfzig Toten und zweihundert Verletzten führte. Es gilt als Sieg der Unionstruppen, wenn auch wohl hauptsächlich, weil die Konföderierten keinen strategischen Sinn darin sahen, ein Gebiet zu besetzen, in dem es ihnen an Unterstützung mangelte, und einfach wieder abzogen.
Mehr als in jeder anderen Gegend im
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