Schutzwall
von wahrhaft gigantischen Ausmaßen – mindestens dreizehn Meter hoch, und oben am Flaschenhals war deutlich der Streifen aus abgesetzter Sahne zu sehen gewesen. Sie hatte nun beinahe sechzig Jahre lang über dem winzigen Lebensmittelladen gehockt, der nach Dills Erinnerung Eigentum einer Molkerei gewesen war: Springmaid Dairy. Er vermutete, daß inzwischen längst Seven Eleven oder eine andere Supermarktkette sowohl die Flasche als auch den Laden geschluckt hatte. Aus irgendeinem Grund ragte die Riesenmilchflasche ständig in Dills Träume von fernen Gegenden hinein. Muß etwas mit Freud zu tun haben, dachte er: etwas Freudianisches, Fröhliches und Phallisches, wie er ergänzte, beglückt wie stets, wenn ihm eine aparte artistische Alliteration in den Sinn kam.
Um sieben Uhr fünfzehn abends, dem Abend jenes Tages, an dem seine Schwester durch eine Bombe umgekommen war, fuhr Dill in dem großen gemieteten Ford den TR Boulevard entlang, eine der drei Durchfahrtsstraßen, die den gitterförmigen Bauplan der Stadt auf ihrem kurvenreichen und gewundenen Weg von Süd nach Nord durchschnitt. Vor langer Zeit waren Straßenbahnen klingelnd und knisternd über den TR Boulevard durch die Innenstadt gefahren, doch waren sie in den späten vierziger Jahren abgeschafft worden. Inzwischen herrschte die einhellige Überzeugung, daß dies ein saudummer Fehler gewesen war, und alle machten dunkle Andeutungen über ein hinterhältiges Komplott von General Motors und den Ölkonzernen, die Straßenbahnen zugunsten des Busverkehrs zu verschrotten. Es war dies eine Verschwörungstheorie, die seit nunmehr vierzig Jahren herumerzählt wurde.
Dill hatte den großen Ford von Budget gemietet. Es war der größte Ford, den sie zu bieten hatten, und noch lieber hätte er einen Lincoln gemietet, wenn sie ihn zur Verfügung gehabt hätten. Dill, VW-Fahrer, der er war, mietete stets Riesenautos aus Detroit mit viel PS unter der Haube und allem Drum und Dran, weil er glaubte, eine solche Möglichkeit nicht auslassen zu dürfen – es war irgendwie so, als mietete man sich seinen eigenen Dinosaurier.
Kurz hinter der langen Biegung, welche die 27th und der TR Boulevard bildeten, kam schließlich wieder die Riesenmilchflasche in Sicht. Doch sie war nicht mehr weiß; statt dessen war sie tiefschwarz. Dill ging mit dem Tempo herunter und starrte fassungslos darauf. Das kleine Gebäude stand leer bis auf einige abgeräumte Glasvitrinen, die ziemlich eingestaubt wirkten. Über dem Eingang hing ein großes Ladenschild in verblassenden psychedelischen Farben mit der Aufschrift: Nebuchadnezzars Head Shop. Doch es sah ganz so aus, als wäre Neb schon vor langer Zeit pleite gegangen. Dill kam seufzend zu dem Schluß, daß dieser aufgegebene Laden nur ein weiterer Nagel war, den die Stadt in den Sarg der sechziger und siebziger Jahre getrieben hatte.
Drei Wohnblocks hinter der schwarzen Milchflasche, an der Ecke 32nd und TR, stand die ausladende Vorderfront eines dreistöckigen viktorianischen Hauses, die sorgfältig in zwei Schattierungen pastellgrüner Farbe gehalten war, die bereits abzublättern begann. Das Haus beherbergte das, was dem Vernehmen nach der dritt- oder viertälteste Presseclub westlich des Mississippi war.
Während der ersten sechzig Jahre seines Bestehens hatte der Club sich ein Gebäude in günstiger Innenstadtlage mit dem Benevolent and Protective Order of Elks geteilt. Doch der Bürgermeister war – nicht ganz grundlos – gerade zum Zeitpunkt der Planungen für die Stadterneuerung wahnsinnig aufgebracht über die Medien gewesen, und das Clubhaus der Presse und der Elche war auf dem Reißbrett als erstes für den Abriß markiert worden.
Der Club hatte eigentlich nie viel mehr zu bieten gehabt als eine Bar, die häufig auch nach den gesetzlichen Schließungszeiten noch offen hatte, Steaks von bemerkenswerter Qualität aus einer geheimnisvollen Quelle drüben in Packingtown und einer Marathonpokerrunde, die pünktlich jeden Samstagmittag begann und ebenso pünktlich jeden Sonntagnachmittag um fünf zu Ende ging, so daß jeder noch Gelegenheit hatte, heimzugehen und sich in der TV-Serie Sixty Minutes all die bereitwilligen Opfer anzusehen, die sich mit Feuereifer ihrer allwöchentlichen Selbstverstümmelung widmeten.
Der Club zählte tatsächlich aktive Presseleute zu seinen Mitgliedern. Mindestens dreißig Prozent auf seiner Mitgliederliste arbeiteten mehr oder weniger direkt im Zeitungsgeschäft, die übrigen kamen aus der
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