Schutzwall
Singe schien auch keine zärtlichen Worte zu erwarten. Es war so, als hätten sie das alles bereits weit hinter sich gelassen und als würden sie sich jetzt auf eine absolute Vertrautheit miteinander hinbewegen. Sie runzelte die Stirn und sagte: »Für die Vorauszahlung auf das Haus und das alles?«
Dill nickte.
»Von dir.« Sie versuchte ein kleines zaghaftes Lächeln.
»Sie sagte, du wärst über Nacht reich geworden.«
»Wie schade, daß sie gelogen hat.«
»Ja«, sagte Anna Maude Singe, »das ist es allerdings.«
17
Dill parkte die Ford-Limousine in der Tiefgarage des Hawkins Hotel, stieg aus, schloß den Wagen ab und ging auf den Fahrstuhl zu. Als er am zweiten der großen quadratischen Betonpfeiler vorüberging, trat ihm ein Mann in den Weg und sagte: »Wie geht’s dem Hals?«
Dill blieb stehen. Seine rechte Hand fuhr unwillkürlich zu seinem Hals hinauf. »Noch immer ein bißchen wund«, sagte er.
Ein zweiter Mann tauchte neben dem ersten auf. Er war dünn wie eine Messerklinge und etwa eins achtzig groß. Er sah klein und zerbrechlich im Vergleich zu seinem Begleiter aus, der reichlich über eins neunzig groß und wie ein Gewichtheber gebaut war, der seinen Sport aufgegeben hatte, nachdem er die Vierzig erreicht hatte, was, wie Dill vermutete, drei oder vielleicht vier Jahre zurückliegen mochte. Der Gewichtheber hatte gelichtetes, graublondes Haar, noch immer tiefblaue Augen und einen breiten, fröhlichen Mund. Der messerschlanke Mann hatte kohlschwarz gefärbtes Haar, mattblaue, stumpfe Augen und einen schmallippigen Mund, der traurig oder niederträchtig wirkte. Eher niederträchtig, fand Dill.
Beide Männer trugen zerknitterte Sommeranzüge aus dunkelbrauner Popeline. Der Gewichtheber hatte ein blaues Hemd an; der Hagere hatte sich für ein weißes entschieden. Beide trugen keine Krawatte. Die Anzugjacken waren zugeknöpft und schienen um einiges zu groß.
Dill vermutete, daß die Jacken die Pistolen verdeckten, da keiner der Männer so aussah, als würde er noch großen Wert auf eine Jacke legen, sobald die Temperatur über 25 Grad gestiegen war. Als Dill auf dem Rückweg zum Hotel durch die Our Jack Street gefahren war, hatte er von der elektronischen Anzeige an der First National Bank abgelesen, daß die Temperatur um ein Uhr siebzehn nachts 30 Grad Celsius betrug.
»Er sagt, daß sein Hals noch immer ein bißchen wund ist«, meinte der Gewichtheber, zu seinem Nebenmann gewandt.
Der andere Mann nickte bedauernd. »Tut mir leid.« Er musterte Dill eingehend. »Wir wollen keinen Ärger, Mr. Dill.«
»Ich auch nicht«, meinte Dill.
Der hagere Mann nickte zur dunklen Seite der Garage hinüber. »Wir sind dahinten in dem Lieferwagen«, sagte er und ging auf einen großen blauen Dodge zu, der rückwärts an der Wand eingeparkt war. Dill zögerte. Der Gewichtheber lächelte freundlich und öffnete seine Jacke.
Die Pistole war da. Dill konnte nur einen flüchtigen Blick darauf werfen, doch es schien sich um einen kurzläufigen Revolver zu handeln. Der Gewichtheber nickte auffordernd zum Lieferwagen hin. Dill drehte sich um und trottete hinter dem Hageren her.
Als sie beim Lieferwagen angekommen waren, ließ der magere Mann die Seitentür aufgleiten, die den Blick auf ein komfortabel ausgebautes Inneres freigab. Dill erkannte einen kleinen Abwaschtisch, einen Herd für Propangas, einen Kühlschrank und einen mit Matten aus brauner Naturfaser ausgelegten Boden. Die Wände waren mit etwas verkleidet, was auf den ersten Blick wie Holz aussah, das Dill jedoch bei näherem Hinsehen für eine Art Kunststoffbeschichtung hielt. Die Rückwand des Lieferwagens war fensterlos.
»Links finden Sie einen hübschen, bequemen Stuhl«, sagte der Hagere.
»Wohin fahren wir?« fragte Dill.
»Nirgendwohin.«
Der Gewichtheber tippte Dill leicht auf die Schulter und zeigte auffordernd ins Innere des Wagens. Dill kletterte hinein, wandte sich nach links und sah zuerst den Stuhl und dann den Mann im rückwärtigen Teil des Wagens, der hinter einem Tisch saß. Auf dem Tisch standen einige Gläser, eine Flasche Smirnoff-Wodka, ein Thermosbehälter mit Eis, drei Flaschen Schweppes Tonic; daneben lag die Akte Jake Spivey. Das letzte Mal, daß Dill den Mann hinter dem Tisch gesehen hatte, war in Genua gewesen, im Hotel Plaza an der Piazza Corvetto. Sie waren zu viert im Wohnzimmer einer Suite im fünften Stock gewesen, Suite 523, wie er sich jetzt erinnerte und wieder einmal überrascht von seinem guten Gedächtnis
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