Schutzwall
Höchsten. Dill fand, daß die buntbemalten Glasfenster vom Entwurf her sehr spannend und gar nicht so abstrakt waren. Er konnte nachfühlen, wie jemand, den die Predigt langweilte, zu den Fenstern hinaufstarrte und sich seine eigenen Geschichten ausdachte. Wenn schon ein Gottesdienst für seine Schwester in der Kirche abgehalten wurde, so dachte Dill, dann in einer wie dieser hier. Zumindest die Architektur hätte ihr sehr gefallen.
Lieutenant Sanchez führte Anna Maude und Dill zum Mittelgang und übergab sie dem bereits wartenden Leiter der Kriminalabteilung, John Strucker. Zum ersten Mal sah Dill Strucker in Uniform. Er war beeindruckt von der Art, wie der Chief sie trug, und von der Uniform selbst, die wie angegossen aus einem Stoff geschneidert zu sein schien, der wie rostrotes Leinen wirkte, jedoch nicht wie Leinen knitterte. Unter den linken Arm geklemmt trug Strucker seine Mütze, die reichlich mit Goldlitze verziert war.
»Wir alle vorn in der ersten Reihe«, murmelte Strucker, und geleitete sie zur ersten Reihe rechts. In der ersten Reihe links erhob sich ein Mann und bewegte sich auf sie zu. Es war ein älterer Mann, mindestens schon über sechzig, und schließlich erkannte Dill in ihm den alten Dwayne Rinkler, den Polizeichef. Es war Jahre her, seit Dill ihn zum letzten Mal gesehen hatte, und das lange schmale Gesicht des Chefs schien noch länger geworden; die frostigen blauen Augen schienen noch älter als er selbst, die dünnen Lippen waren inzwischen ganz verschwunden und hatten nur einen schmalen, geraden Strich hinterlassen. Rinkler hatte fast alles Haar eingebüßt, und seine Haut war tief gebräunt. Er trug seine Uniform fast in so guter Haltung wie Strucker. Seine Mütze zierte sogar noch mehr goldene Litze.
Strucker machte miteinander bekannt, und Chief Rinkler schüttelte zuerst Anna Maude Singe und dann Dill die Hand. »Wir sind zutiefst betroffen, Mr. Dill«, sagte er in seinem rauhen Baß, »wir alle hier.«
»Danke«, sagte Dill.
»Sie war eine großartige Frau«, ergänzte Rinkler und nickte, als wollte er seine eigene Feststellung bekräftigen.
Noch immer ernst nickend, machte er auf dem Absatz kehrt und ging zu seinem Platz zurück. Strucker schloß sich ihm an. Dill und Anna Maude nahmen ihre Plätze auf der anderen Seite ein.
Nachdem er sich gesetzt hatte, musterte Dill den Katafalk, den er zum ersten Mal zu Gesicht bekam. Den Sarg konnte er gar nicht sehen, da er von einer großen amerikanischen Flagge verhüllt war. Zu beiden Seiten des Katafalks stand eine Totenwache von sechs Polizisten in makellosen Sommeruniformen bewegungslos in Habachtstellung.
Von irgendwoher begann ein gemischter Chor zu singen. Dill ging dem Klang nach, wandte sich um und schaute hoch. Oben im Chorgestühl erhoben zwölf blutjunge männliche und weibliche Polizisten ihre Stimmen ohne Instrumentalbegleitung zu einer langsamen, feierlichen Wiedergabe von The Battle Hymn of the Republic.
Offenbar hatten sie vor, alle vier Strophen zu singen, während die Kirche sich langsam füllte. Dill fand, daß sie recht hübsch sangen, und fragte sich, ob Felicity Einwände gegen die Hymne gehabt hätte. Vielleicht früher einmal, befand er, aber jetzt nicht mehr.
Als der Chorgesang vorüber war, gab es das übliche Gescharre und Geräusper und halbersticktes Husten. Der noch sehr jung aussehende Prediger hatte seinen Auftritt und stieg langsam in die Kanzel, von wo aus er aus traurigen Augen hinter einer schmucklos ernsten Hornbrille auf die hier Versammelten blickte.
»Wir sind heute hier zusammengekommen«, sagte er, »um jemandes Tod zu betrauern und für die Seele eines Menschen zu beten, der nicht dieser Kirche oder ihrem Bekenntnis angehörte, eines Menschen aber, der sein Leben dem öffentlichen Dienst geweiht hat, der sowohl dieses unser Bekenntnis als auch diese Kirche beschützt. Wir sind hier, um zu trauern und zu beten für Detective Felicity Dill und ihr zu danken für ihr allzu kurzes Leben im hingebungsvollen Dienst für diese Gemeinde.«
So ging es noch fünf Minuten weiter – ein tödlich öder junger Mann, dachte Dill, der offenbar seiner Sache inbrünstig ergeben und anscheinend todernst war. Als der junge Prediger salbungsvoll das unvermeidliche Wort »vergebens« aussprach, schaltete Dill endgültig ab, wie er es immer tat, sobald er jemanden dieses Wort aussprechen hörte. Es folgte stets in unmittelbarem Anschluß an »Opfer«, ein weiteres Wort, das Dills Gedanken auf Wanderschaft
Weitere Kostenlose Bücher