Schutzwall
schickte. Jemand hat meine Schwester ermordet, dachte er, während die Stimme des jungen Predigers sich hob und senkte. Wenn Felicity nicht vergebens gestorben ist, dann weiß ich nicht, wessen Tod ohne Sinn war.
Erneut waren Geräusche aus der Menge zu hören, und Dill stellte fest, daß der junge Prediger geendet hatte und der Polizeichor einen neuen Choral sang. Das Dutzend frisch geschrubbter junger Polizisten und Polizistinnen brachte jetzt Amazing Grace, einen Choral, den Felicity ganz besonders verabscheut hatte. »Lies den Text irgendwann, Pick«, hatte sie ihm geschrieben, kurz nachdem Jimmy Carter hatte durchblicken lassen, daß Amazing Grace sein Lieblingschoral wäre. »Du mußt das wirklich gelesen haben, und dann wirst du verstehen können, warum Menschen sich die ganze Scheiße zumuten lassen, mit der sie sich herumquälen.« Dill horchte auf den Text, hörte wirklich genau hin, aber die Worte waren für ihn absolut bedeutungslos, wenngleich er fand, daß der Polizeichor sie wirklich wunderschön sang.
Nachdem der Choral vorüber war, hoffte Dill, daß damit auch der Gottesdienst zu Ende wäre, doch er sah sich getäuscht. Der junge Prediger war bereits von der Kanzel gestiegen, und jetzt erklomm sie jemand anderer. Dieser andere war Gene Colder, baptistischer Diakon und Captain der Mordkommission, der in seiner Ausgehuniform, die genauso maßgeschneidert wirkte wie die des Leiters der Kriminalabteilung, gepflegt und melancholisch aussah. Colder umklammerte die Brüstung nicht aus Nervosität, sondern mit dem Aussehen des geschulten Redners, der Wichtiges zu sagen hatte. Seine Augen überflogen prüfend die Zuhörerschaft, beginnend mit den ganz hinten Sitzenden und dann den Blick Dills in der ersten Reihe festhaltend, dem er unmerklich zunickte. Dann schien Colder sich denjenigen aus den Trauernden herauszugreifen, an der er sich ganz besonders zu wenden gedachte – er schien irgendwo in der Mitte zu sitzen –, und hub dann an: »Ich bin gebeten worden, einige Worte des Gedenkens über Detective zweiten Grades Felicity Fredericka Dill zu sagen (O Gott, wie sie den Namen Fredericka gehaßt hatte!, dachte Dill), nicht nur weil sie in meiner Abteilung im Morddezernat gewesen ist, sondern auch, weil wir Freunde waren.« Colder machte eine Pause und setzte hinzu: »Sehr gute Freunde.« Jetzt wußte auch noch der letzte, daß sie miteinander geschlafen hatten, falls sie es nicht schon vorher gewußt hatten, dachte Dill.
»Detective Dill war das, was ich einen Cops Cop: einen mustergültigen Cop, nennen würde«, fuhr Colder fort.
»Sie bekam ihre Beförderungen, und es waren in der Tat schnelle Beförderungen, und das wegen ihrer harten, oftmals brillanten Arbeit. Ich zögere nicht, vorherzusagen, daß sie, wäre sie noch unter uns Lebenden und könnte ihrer Karriere mit derselben Entschlossenheit und Brillanz weiter nachgehen, die erste weibliche Leiterin einer Kriminalabteilung geworden wäre und sogar – auch das ist nicht unvorstellbar – der erste weibliche Polizeichef dieser Stadt.« Captain Colder zeigte den Anflug eines Lächelns.
»Mit Sicherheit aber läßt sich behaupten, daß sie zum Captain ernannt worden wäre.«
Danach ließ Colder sich darüber aus, was für ein wunderbarer Mensch Detective Dill gewesen war. Er pries ihre Klugheit und Tapferkeit. Er sagte Nettigkeiten über ihren gesunden Menschenverstand und ihre ungewöhnliche Begeisterungsfähigkeit. Er beklagte ihren Verlust als tragisch und ihr Vermächtnis als ewig unvergessen, obwohl Dill nicht die blasseste Ahnung hatte, was er damit meinen mochte. Colder vergaß allerdings, die Lebensversicherung über zweihundertfünfzigtausend Dollar und das gelbe Ziegelhaus zu erwähnen, die immerhin auch Teil ihres Vermächtnisses waren, doch nach Meinung Dills eines, das nicht ewig unvergessen und besonders dauerhaft sein würde.
Abschließend sagte Colder: »Ich kann nur noch einmal das höchste Lob wiederholen, das wir ihr zollen können: Sie war ein Cops Cop, ein Vorbild, und wir werden sie vermissen, alle, die wir hier sind.«
Der Laienprediger ließ den Blick über die Gemeinde der Gläubigen schweifen, denn das, dachte Dill, waren sie jetzt wohl für ihn geworden, und forderte sie auf, sich ihm zum Gebet anzuschließen. Dill beobachtete, wie sich die Köpfe der Ehrenwache ruckartig senkten, die sich in Habachtstellung zum Gebet anschickte.
Als das Gebet vorüber war, brach der Polizeichor wieder in lautstarken Gesang aus.
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