Schutzwall
Dill, der kein Kirchengänger war, vermutete, daß es sich diesmal um Abide With Me handelte. Er warf einen Seitenblick auf Anna Maude Singe, die seine Hand ergriff und sie drückte. »Denk immer daran«, sagte sie mit gedämpfter Stimme, »sie ist irgendwo und schüttet sich vor Lachen aus.«
»Bestimmt«, sagte Dill, der allerdings nicht daran glauben konnte. Er wandte sich dem auf sie zugehenden Captain Colder zu, der zuerst Anna Maude und dann Dill die Hand schüttelte. »Ich weiß Ihre Gedenkrede zu würdigen, Captain«, sagte Dill.
»Jedes Wort war mir aus der Seele gesprochen.«
»Es war sehr bewegend«, sagte Anna Maude.
»Ich danke Ihnen.« Er sah zu Dill hin. »Alles andere ging glatt – mit dem Wagen und so weiter?«
»Es war perfekt. Ich möchte Ihnen dafür meinen Dank aussprechen.«
»Ich werde Sie jetzt zu Ihrem Wagen begleiten. Er wird direkt hinter Felicity fahren.« Nicht etwa hinter dem Leichenwagen, fiel Dill auf, sondern hinter der noch nicht beerdigten Felicity. Colder lächelte aufmunternd. »Die Grabrede wird sehr kurz sein, sehr formell. Wollen wir gehen?«
Als sie den Mittelgang hinunterschritten, hielt Dill nach bekannten Gesichtern Ausschau – nach alten Freunden der Familie, denen er zunicken oder zulächeln konnte –, doch da war niemand mehr. Sie hat hier sicher Freunde gehabt, dachte er, aber du kennst sie nicht, weil die Kluft von zehn Jahren, die zwischen euch lag, unüberbrückbar gewesen ist. Er bemerkte die Polizeiabordnung von auswärts, untadelig und korrekt in ihren unterschiedlichen Uniformen, Gesichter, die neugierig und mit Anteilnahme zu ihm herüberschauten, als er vorbeiging.
Das sind also die, die gekommen sind, Felicity zu Grabe zu tragen, fuhr es Dill durch den Kopf. Cops oder die Ehefrauen von Cops. Die Cops selbst waren jung oder in mittleren Jahren. Ich vermute, es gibt gar keine alten Cops mehr, mit Ausnahme des Polizeichefs. Ich glaube, sie reißen ihre zwanzig oder dreißig Jahre ab, nehmen ihre Pension und scheiden aus. Detective Dill. Sergeant Dill. Captain Dill. Leiterin der Kriminalabteilung Dill.
Polizeichefin F.F.Dill. Nun ja, wer weiß, vielleicht wäre es wirklich so gekommen.
In dem Außensitz am Gang, in der vorletzten Reihe, saß Fred Y. Laffter, der altersgraue Polizeireporter. Er stand auf, trat von der Seite an Dill heran und sagte mit heiserem Wispern: »Wir werden mit dem Zeug über die Versicherungspolice Ihrer Schwester und das Geld, das sie für ihr Haus angezahlt hat und mit der ganzen anderen Scheiße rauskommen. Wollen Sie dazu irgendeine Stellungnahme abgeben?«
Dill blieb stehen. »Wen meinen Sie mit › wir‹?«
Laffter zeigte mit einem Finger himmelwärts und zuckte die Achseln. »Die in der oberen Etage haben mir gesagt, daß sie es bringen wollen, also bringen wir es. Ich kann Sie noch immer ganz raushalten, falls Sie das wollen, obwohl das Ganze mein Einfall gewesen ist, nicht Ihrer.«
»Kein wörtliches Zitat von mir«, sagte Dill, »absolut nichts.«
»Herrgott noch mal, Laffter, doch nicht jetzt!« sagte Colder und schob sich zwischen Dill und den alten Mann.
»Ich tu ihm doch nur einen Gefallen«, sagte Laffter.
»Aber verdammt, nicht jetzt!« sagte Colder.
Laffter starrte kalt zu ihm zurück. »Das ist mein Job, Sonny«, schnappte er, machte einen unbeholfenen Bogen um Colder und baute sich wieder vor Dill auf. »Nichts für ungut, Junge.«
»Scheiß drauf, geh mir aus dem Weg«, sagte Dill.
20
Angeführt von den zwei Dutzend Harley Davidsons, an deren Spitze wiederum ein grün-weißer Einsatzwagen mit eingeschaltetem Blaulicht fuhr, rollte die anderthalb Kilometer lange Trauerprozession in einem gemessenen Tempo von zwanzig Stundenkilometern auf den Green-Glade-of-Rest-Friedhof zu, der einst ein abgewirtschaftetes Bauerngehöft am östlichen Stadtrand gewesen war.
Der Mittelteil des Green Glade war ein nicht allzu kompliziert angelegter Irrgarten, der etwa ein Viertel der Größe eines Footballfeldes maß. Dieses Labyrinth wurde gebildet aus Ligusterhecken, die zwei Meter fünfzig hoch und vielleicht einen Meter dick waren. Es gab auch Kiespfade, auf denen man entlangschlendern, und Steinbänke in lauschigen Ecken, wo Trauernde sich setzen und ausruhen und ihren Gedanken über Leben und Tod und deren höhere Bedeutung nachhängen konnten. Allerdings lief es sich auf dem Kies nicht sehr bequem, die Steinbänke waren hart und drückten, und der Irrgarten wurde gewöhnlich von jenen gemieden, die einen
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