Schwaben-Angst
Wintterlin. »Katja Dorn.«
Mirka Nagel benötigte einige Sekunden, sich von ihrem Schreck zu erholen. »Katja?«, fragte sie mit zittriger Stimme.
Die Kriminalbeamtin nickte.
»Aber doch nicht hier bei mir.«
Wintterlin schaute sie fragend an. »Heute Morgen stieg sie in Ihr Auto.«
»Heute Morgen, ja.«
Neundorf trat aus der Wohnung, steckte ihre Pistole weg, schüttelte den Kopf. »Wo ist Frau Dorn?«, fragte sie.
Mirka Nagel zitterte am ganzen Körper. »Was wollen Sie?«
»Frau Dorn«, wiederholte die Kommissarin ungeduldig. »Wo ist sie?«
»Ich weiß es nicht.« Sie schüttelte den Kopf. Hinter ihr in der Wohnung setzte das Klavierspiel wieder ein.
»Sie waren bei ihr in Oppelsbohm«, sagte Anja Wintterlin.
»Ja. Wir fuhren nach Waiblingen in die Altstadt, waren dort in einem Café. Katja hat mich angerufen, wir hatten uns lange nicht gesehen.«
»Wann war das?«
»Heute Morgen.«
»Wohin ging Frau Dorn anschließend?«
Mirka Nagel schaute ratlos auf. »Ich weiß es nicht. Sie wollte irgendwas erledigen. Ich hatte keine Zeit, mich länger aufzuhalten. Wir tranken einen Kaffee und unterhielten uns. Dann fuhr ich nach Stuttgart. Ich benötigte Noten für einen meiner Schüler.«
»Um wie viel Uhr trennten Sie sich von Frau Dorn?«
»Gegen elf. Ich wollte vor der Mittagspause in der Königstraße sein, deshalb weiß ich es so genau.«
»Und Sie sahen Frau Dorn seitdem nicht mehr?«
Mirka Nagels Stimme gewann an Intensität. »Nein, ich hatte keine Zeit mehr. Um zwei kam schließlich mein erster Schüler.«
Die krampfhaften Versuche, dem Klavier harmonische Töne zu entlocken, verstummten. Stattdessen ertönte das Sirren eines in Bewegung gesetzten Drehstuhls.
»Wo trennten Sie sich? Vor dem Café?«
»Am Rand der Altstadt. Ich wollte zu meinem Wagen. Katja hatte noch etwas zu erledigen. In der Nähe des Bahnhofs, sagte sie.«
Neundorf betrachtete die aufgeregte Miene der Frau, nickte mit dem Kopf. Es schien, als ob die Klavierlehrerin die Wahrheit sagte. Alles passte zusammen. Kurz nach neun hatte sie Katja Dorn in Oppelsbohm abgeholt, genau wie es der Nachbar behauptet hatte. Knapp zwei Stunden später, nach dem gemeinsamen Kaffeetrinken, war sie dann allein von Waiblingen aus weitergefahren. Und Katja Dorn hatte sich ins Hotel begeben, wo schon Gerd Seiter auf sie wartete …
»Wie gut kennen Sie Frau Dorn?«, fragte Anja Wintterlin.
»Wie gut?« Mirka Nagel drehte sich zur Seite, schaute zu der jungen Beamtin hoch. »Wir haben mehrere Monate zusammen gearbeitet. In einem Theater in Stuttgart. Katja als Schauspielerin, ich als Regieassistentin. Vor zehn Jahren ungefähr.«
»Und seither?«
»Wir sahen uns nicht oft. Leider. Ein- oder zweimal im Jahr. Ich bin hier ziemlich fest gebunden. Und Katja ist viel unterwegs. Es ist nicht einfach, eine Rolle zu bekommen in unserem Alter.«
Die Glocke ließ ihr kräftiges Dingdong erschallen. Wintterlin schrak zusammen, starrte überrascht an die Decke über der Wohnungstür. Mirka Nagel warf einen Blick auf ihre Uhr, drückte auf den Türöffner. Das Summen aus dem Erdgeschoss war deutlich zu hören.
»Sie wissen nicht, wo sich Frau Dorn jetzt aufhält?«
Die Frau schüttelte den Kopf.
»Immerhin haben sie fast zwei Stunden miteinander geschwatzt.«
»Nur über die Vergangenheit und über ihre Schwierigkeiten im Beruf. Katja ist ziemlich wütend, weil sie aus Altersgründen ständig abgelehnt wird.«
»Das wissen wir.«
»Und auf diesen Regisseur, der sie systematisch erniedrigt.«
Mirka Nagel begrüßte ein junges Mädchen, das die Treppe hochkam. Es war um die Vierzehn, trug eine schmale, schwarze Ledermappe in der Hand, betrachtete neugierig die beiden Beamtinnen.
»Einen Regisseur? Wissen Sie, wie der Mann heißt?«
Die Klavierlehrerin schüttelte den Kopf. »Bedaure, aber den Namen hat sie nicht erwähnt. Ich muss mich jetzt entschuldigen, Sie sehen, meine nächste Schülerin ist da und drinnen sitzt noch ihr Vorgänger.« Sie bat das Mädchen, ins Klavierzimmer zu gehen und dort auf sie zu warten. »Was wollen Sie überhaupt von ihr?«, fügte sie dann hinzu. »Was hat Katja mit der Polizei zu tun?«
Neundorf reichte ihr die Hand. »Ich fürchte, das werden Sie morgen aus der Zeitung erfahren. Oder heute Abend noch in den Nachrichten sehen, wenn Sie Zeit dazu finden.«
Mirka Nagel starrte ihnen mit großen Augen nach, als sie die Treppe hinunterliefen.
35. Kapitel
Die junge Frau mit der Kamera und dem kleinen Fotokoffer in
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