Schwaben-Angst
Schock stand ihm unversehens in den Augen. Seiter starrte auf das Foto, holte tief Luft, stieß sie keuchend von sich. Er warf den Kopf auf die Seite, stöhnte vor Schmerzen laut auf. Tränen perlten aus seinen Augen.
Die Antwort war eindeutig. Katja Dorn, wusste Beck, sie hatte es wieder versucht. Er steckte das Foto weg, wartete ein paar Minuten, bis der Mann sich etwas beruhigt hatte.
»Sie haben sich mit ihr getroffen?«, fragte er dann.
Seiter hauchte ein leises »Ja«.
»Freiwillig. Sie benutzten den Hinterausgang, damit unser Kollege Ihr Verschwinden nicht bemerkte.«
Es dauerte eine Weile, bis der Überfallene mit heftigem Stöhnen und Schnauben Becks Vermutung bestätigte.
»Sie hat Sie also nicht aus Ihrer Wohnung entführt.«
»Nein«, hauchte er.
»Sie trafen sich im Hotel?«
Die Andeutung eines Kopfnickens bekräftigte die Korrektheit seiner Aussage.
»Und dann schlug sie Sie nieder.«
Seiter versuchte, ein »nein« zu artikulieren. »Später«, fügte er dann nur schwer verständlich hinzu.
»Sie haben mit ihr geschlafen?«
Die Antwort des Mannes kam prompt. Trotz seiner Schmerzen bewegte er seinen Kopf verneinend hin und her. »Wei«, hauchte er dann, »Wei …«
Beck verstand nicht, wiederholte die Worte des Überfallenen. »Wei?«
Seiter zeigte eine Andeutung von Kopfschütteln.
»Wein«, erklärte Felsentretter, der erstaunlich leise hinter seinen Kollegen getreten war, »sie bot Ihnen Wein zum Trinken an.«
»K l e i n e F l a s c h e«, buchstabierte der Mann.
Beck nickte mit dem Kopf. »Eine kleine Flasche Wein. Und da erinnerten Sie sich an unsere Warnung, richtig?«
»Ja.«
»Aber Sie wunderten sich wahrscheinlich darüber, dass Ihnen der Wein von einer Frau angeboten wurde, obwohl meine Kollegen Sie vor einem Mann gewarnt hatten, ja?« Er sah die Bestätigung in den Augen Seiters. »Und später, nachdem Sie sich geweigert hatten, den Wein mit ihr zu trinken, schlug sie Sie in einem überraschenden Moment nieder, bevor Sie sich wehren konnten.«
Gerd Seiter bewegte seinen Kopf zur Bestätigung vorsichtig auf und ab.
34. Kapitel
Das Autokennzeichen der angeblichen Freundin Katja Dorns hatten sie innerhalb weniger Minuten überprüft. Das Fahrzeug, ein älterer VW Golf, war auf eine Mirka Nagel zugelassen, geboren 1952, wohnhaft in der Schillerstraße in Crailsheim.
Neundorf und Wintterlin beschlossen, die Wohnung der Frau sofort ohne jedes Zögern zu überprüfen. Vielleicht hatten sie Glück und konnten Frau Dorn dort überraschen – vorausgesetzt, der Mann in Oppelsbohm hatte sich das richtige Autokennzeichen gemerkt.
Zehn Minuten vor fünf waren sie in Crailsheim angelangt. Der rote Golf parkte vor einem der Häuser unweit des Schwanensees. Wintterlin erkannte das Kennzeichen sofort, zeigte auf das Fahrzeug. Es war leer, niemand in seiner Nähe zu sehen.
Sie suchten die benachbarten Gebäude nach der richtigen Hausnummer ab, fanden die Wohnung im ersten Obergeschoss eines Mehrfamilienhauses. Ihr Name prangte in breiten Lettern neben dem Klingelknopf.
Mirka Nagel, Klavierlehrerin
.
Anja Wintterlin zog ihren Schlüsselbund hervor, machte sich an der Haustür zu schaffen. Nach wenigen Sekunden war sie soweit. Sie betraten leise das Treppenhaus, hielten die Tür fest, ließen sie sanft ins Schloss gleiten. Die mühsamen Versuche eines unüberhörbar wenig begabten Klavierspielers waren bis ins Erdgeschoss zu hören.
Neundorf zeigte wortlos nach oben, nickte mit dem Kopf. Sie schlichen sich auf Zehenspitzen die Treppe hoch, postierten sich vor der Wohnungstür Frau Nagels, entsicherten ihre Waffen. Als das Klavierspiel für einen Moment aussetzte, drückte Anja Wintterlin auf die Glocke. Ein lautes Dingdong hing in der Luft.
Die Frau in der Wohnung reagierte erst nach ihrem zweiten Versuch. Eine Tür quietschte, Schritte näherten sich. »Einen Moment«, rief sie laut. Sie öffnete die Tür, schaute gedankenverloren ins Treppenhaus.
Neundorf reagierte sofort. Sie stieß die Tür vollends auf, drückte sich an einer Frau vorbei: dunkelblonde Locken, schmales Gesicht mit auffallend bleicher Haut, fast einen Kopf kleiner als Wintterlin.
»Kriminalpolizei«, flüsterte diese, hielt ihren Ausweis hoch. Sie merkte, dass ihr Gegenüber schreien wollte, drückte ihr den Zeigefinger auf die Lippen. »Frau Nagel, ja?«, setzte sie mit gedämpfter Stimme hinzu.
Die Frau schaute überrascht zu ihr auf, Angst und Verunsicherung in den Augen.
»Wir suchen Frau Dorn«, erklärte
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