Schwaben-Angst
Gerd Seiter ausgeführt habe. Er rief sie dazu auf, mit der Veröffentlichung ihres Porträts die Fahndung der Polizei nach der Frau zu unterstützen.
Braig hatte sich an diesem Nachmittag zum ersten Mal seit Tagen wieder die Zeit für ein ohne jede Hektik zu sich genommenes Essen gegönnt, war schon in Köln in den Bistrowagen des Zuges gestiegen und hatte eine große gemischte Salatplatte und Kartoffelgratin bestellt. Kurz vor Mannheim, die zweite Tasse Kaffee vor sich, meldete er sich bei Ann-Katrin Räuber. »Wie geht es dir?«
Schon ihr Zögern verriet ihr Befinden. »Ich komme gerade vom Arzt«, antwortete sie, »ich soll die Tabletten absetzen.«
»Weshalb?«
»Es gab Schwierigkeiten«, versuchte sie sich herauszureden, »wegen meiner Haut.«
Braig kannte sie gut genug, wusste, dass er nachkarten musste. »Was hat das zu bedeuten?«
»Sei froh, dass du mich nicht sehen kannst.«
»Ich komme nachher bei dir vorbei«, drohte er.
»Nein. Heute nicht mehr. Ich bin zu müde.«
»Deine Haut«, erinnerte er. »Was ist damit?«
»Irgendein komischer Ausschlag. Kleine, rote Pickel.«
»Wo genau?«
»An den Händen, den Armen, überall.«
»Auch im Gesicht?«
»Leider, ja.«
»Seit wann?«
»Gestern Abend«, sagte sie, »vorher habe ich es jedenfalls nicht bemerkt.«
»Und was sagt der Arzt?«
»Wahrscheinlich Nebenwirkungen der Schmerztabletten. Er weiß es nicht genau, hat mir auf jeden Fall andere verschrieben.«
»Er meint, der Ausschlag geht wieder weg?«
Ann-Katrin zögerte. »Ich soll am Freitag wiederkommen.«
»Wir müssen einen anderen Arzt zu Rate ziehen«, erinnerte er sie. »Nicht wegen des Ausschlags. Ganz allgemein.« Wie oft hatten sie es schon besprochen? »Du weißt, was ich meine.« Unzählige Male waren sie sich einig gewesen, es endlich zu tun. Allein, dazu aufraffen konnte sie sich nicht, ihr fehlte der Mut. Ihm meistens die Zeit.
»Wenn es hilft.« Ann-Katrins Antwort klang resignierend.
»Sobald wir unseren Fall gelöst haben, nehme ich mir frei. Dann sehen wir uns um. In der gesamten Region. Diese Woche noch.«
»Du glaubst, es geht so schnell?«
»Ich hoffe. Heute sind wir entscheidend vorwärtsgekommen. Ich bin gerade auf dem Rückweg von Köln.« Braig berichtete ihr von seinem Gespräch mit Susanne Braun, hörte ihre überraschten Kommentare.
»Dann ist das Foto in der Zeitung falsch.«
»Leider«, gab er zu, »obwohl die Frau genau so vor uns stand.«
»Wie reagieren die Medien?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete er, »noch sitze ich im Zug und genieße die Ruhe und den Frieden hier.« Er nahm seine Tasse auf, trank von dem Kaffee. Dann fiel ihm das traurige Ereignis ein, von dem er am frühen Morgen erfahren hatte. »Ich muss dir noch etwas sagen.«
Sie merkte an seinem Tonfall, dass es keine erfreuliche Mitteilung war. »Was meinst du?«
»Bernhard Söhnle ist gestorben.«
Sie hatte ihn bei weitem nicht so gut gekannt wie er, beruflich auch nur wenig mit ihm zu tun gehabt, war von der Nachricht dennoch schockiert, handelte es sich bei dem Verstorbenen doch um einen relativ jungen und recht beliebten Kollegen, den niemand als so krank erachtet hatte, dass mit seinem Ableben zu rechnen gewesen wäre. Braig schilderte ihr die Umstände von Söhnles Tod, ging auf die Ermittlungen ein, an denen dieser beteiligt gewesen war, berichtete von den lebensbedrohenden Momenten, die sie gemeinsam durchgestanden hatten. »Und jetzt ist er tot. Alles vorbei.« Er diskutierte mit ihr die Diagnose des Chefarztes des Tübinger Universitätsklinikums, Söhnles Krebs resultiere aus der Strahlenbelastung des radioaktiven Mülls, dessen Abtransport aus Neckarwestheim er über Jahre hinweg hatte begleiten müssen, und über Spekulationen, inwieweit man die verantwortlichen Manager und Politiker zur Rechenschaft ziehen könne.
»Mit legalen Methoden wohl kaum«, meinte Ann-Katrin. »Auf diese Variante der Kriminalität ist unsere Gesellschaft nicht einmal in Ansätzen vorbereitet.«
Braig verabschiedete sich erst, als der Zug in den Stuttgarter Hauptbahnhof einfuhr, wünschte ihr gute Besserung und versprach, sich am nächsten Tag wieder bei ihr zu melden.
Bei der Besprechung in Hofmanns Büro eine halbe Stunde später traf er auf müde, abgekämpfte Gesichter. Man kannte die Mörderin, verfügte jedoch immer noch nicht über den kleinsten Anhaltspunkt, wo man die Frau aufgreifen und von weiteren Morden abhalten konnte. Wie gefährlich sie nach wie vor war, hatte sie ja im
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