Schwaben-Angst
Gesprächspartners. Und an dieser Kombination verschiedener Wahrnehmungsebenen war in den letzten Jahren auch manche schauspielerisch begabte Person, die ihm einen Bären aufzubinden versucht hatte, gescheitert.
Im Falle Marion Böhlers jedoch war er unsicher. Alle Berufserfahrungen halfen ihm hier nicht weiter. Vielleicht war der Besuch in Rotenberg zu kurz oder zu spät am Abend erfolgt, seine eigene Verfassung nicht mehr vital genug gewesen, sich voll auf Marion Böhler konzentrieren zu können.
Er wagte es jedenfalls nicht, ein vorläufiges Urteil über Schuld oder Unschuld der Frau zu fällen.
»Ihr zweifelt an ihren Aussagen?«
»Ich bin mir nicht sicher. Sie selbst kann doch kaum so naiv sein kann zu glauben, wir würden im Fall des Gifttodes ihres Mannes nicht zuerst an sie, die Apothekerin denken.«
»Sonst gibt es keine Verdächtigen?«
»Noch ist es zu früh. Wir wissen fast nichts über den Toten. Allerdings haben wir Spuren.« Er erzählte ihr von Schöfflers Beobachtungen, beschrieb ihr das verblüffend kleine Profil der Schuhsohlen.
»Eine Frau?«
»Kann sein. Wir müssen unbedingt die Schuhgröße Frau Böhlers überprüfen. Andererseits wissen wir nicht, ob der Täter absichtlich zu kleine Schuhe trug. Um uns zu täuschen.« Er hatte es ausführlich mit Bernhard Söhnle erörtert. Waren die Abdrücke nicht viel zu deutlich zu erkennen, übers ganze Gelände hinweg, so als wollte der Mörder bewusst verhindern, dass man sie übersah?
»Das könnte sein. Frauen als Giftmörderinnen – ein altes Klischee. Klingt irgendwie nach Kino und Hollywood. Damit ihr ja in diese Richtung ermittelt.«
Genau das hatte er auch gedacht. Aber war das nicht bereits zu viel an Interpretation?
»Ihr müsst euch auf den Toten konzentrieren, oder? Was war er für ein Mensch, mit wem hatte er zu tun, beruflich, privat.«
Braig bestätigte Ann-Katrins Vorschlag. Schon auf der Rückfahrt hatten Söhnle und er darüber nachgedacht, was Marion Böhlers Aussage, ihr Mann habe Briefe mit Drohungen erhalten und sie in seinem Büro deponiert, bedeutete. Wieso benötigte ein Weinbauer ein Büro? Hatte Konrad Böhler, wie viele Landwirte im Schwäbischen, ein weiteres Einkommen? Sie mussten sich morgen darüber informieren, zudem die angeblichen Drohbriefe ansehen.
»Was für ein Typ ist die Frau? Hast du dir Gedanken darüber gemacht?«
Steffen Braig wusste sofort, was sie meinte. Er lachte leise. »Ich hatte leider keine Zeit, mich damit zu beschäftigen. Die halbe Stunde … Das reichte beim besten Willen nicht aus. Ich kann sie noch nicht einordnen.«
Das Enneagramm, eine von Ann-Katrins Lieblingsbeschäftigungen, Menschen aufgrund ihrer Charaktere und ihres Verhaltens in bestimmte psychologische Kategorien einzuteilen, um sie besser verstehen und ihre Handlungsweise analysieren zu können. Vor Wochen schon hatte sie ihm zwei Bücher in die Hand gedrückt, die das Enneagramm aus unterschiedlicher, weltanschaulicher Sicht thematisierten, hatte ihn dazu überredet, einen Gesprächskreis zum Thema in einer Ludwigsburger Kirchengemeinde zu besuchen.
Zweimal war er mit ihr dort gewesen, hatte den Ausführungen der überwiegend weiblichen Teilnehmer gelauscht und versucht, sich die Einzelheiten der charakterlichen Typisierung einzuprägen, um das Enneagramm zur Beurteilung von Menschen nutzen zu können. Anfangs war er Ann-Katrins Begeisterung für dieses Modell mit großer Skepsis begegnet, fürchtete er doch die Gefahr einer weitgehend undifferenzierten und pauschalen Einordnung von Menschen in bestimmte orthodox vorgegebene Kategorien. Je länger er sich jedoch damit beschäftigt und je öfter Ann-Katrin ihn mit der Beurteilung bekannter Personen im Rahmen dieses Jahrtausende alten, traditionsreichen Modells überrascht hatte, desto mehr waren seine Vorbehalte gewichen und hatten der nüchternen Erwägung Platz gemacht, dass ihm das Enneagramm – vorsichtig zur Anwendung gebracht – unter Umständen sogar beruflichen Nutzen bringen könne.
Auf das Thema gekommen waren sie nach einer heftigen Auseinandersetzung, die Braig mit seinem Kollegen Felsentretter anlässlich des weiteren Vorgehens in einer komplizierten Ermittlung ausgefochten hatte. Felsentretter, stürmisch, polternd und unsensibel wie immer, war wie ein Elefant über mehrere Verdächtige weggetrampelt, hatte Braigs vorsichtig herantastende Vorarbeit mit einem einzigen seiner unbedachten Schritte zerstört.
»Die typische Acht«, hatte Ann-Katrin
Weitere Kostenlose Bücher