Schwaben-Angst
Räuber kommentiert, als er ihr voller Frust das Vorgefallene berichtete, »du musst dir die Charaktermerkmale dieser Menschen einprägen, dann wirst du Felsentretter verstehen und sein Verhalten in Zukunft besser abschätzen.«
Die typische Acht, so hatte sie ihn dann informiert, lebt gern exzessiv über das gewohnte Maß hinaus und will von allen als wichtige Person erkannt werden. Sie tritt selbstbewusst und unüberhörbar auf und sieht keinen Anlass, sich an Vorschriften zu halten, wenn diese ihr nicht sinnvoll erscheinen. Menschen, die nicht so viel Power entwickeln wie sie selbst, verachtet sie; ohne große Skrupel trampelt sie über diese hinweg.
Felsentretter, überlegte Braig damals, wie er leibt und lebt. Treffender hätte er den Kollegen nicht beschreiben können.
Die Persönlichkeit Marion Böhlers allerdings vermochte er noch nicht ins Enneagramm einzuordnen. Dazu kannte er die Frau viel zu wenig, hatte von ihren typischen Charakterzügen keinerlei Ahnung.
»Schade«, meinte Ann-Katrin. »Ich hätte zu gerne mal wieder über einen Menschen diskutiert.«
Braig, den die Müdigkeit vollends zu übermannen drohte, versprach, am nächsten Morgen wieder von sich hören und sich auf jeden Fall in Ludwigsburg sehen zu lassen und verabschiedete sich dann von ihr. Zehn Minuten später war er bereits eingeschlafen.
6. Kapitel
Am Samstagmorgen hatte Braig Mühe, wach zu werden und klare Gedanken zu fassen. Er hatte den Wecker um zehn vor sieben läuten lassen, gönnte sich nur eine kurze Dusche und ein karges Frühstück, um dann direkt nach Rotenberg zu fahren. Mit einem Team von drei Leuten, bestehend aus seinen Kollegen Beck, Söhnle und Stöhr, war er von acht Uhr an dort und in den Nachbarorten unterwegs, alle Besitzer von Grundstücken im Bereich des Mönchbergs nach einer Person zu fragen, die am Freitagnachmittag dort irgendwo beobachtet worden war. Den zuständigen Sachbearbeiter des Grundbuchamtes hatte Söhnle noch am Vorabend informiert und um einen Computerausdruck gebeten, nachdem es Markus Schöffler und seinen Kollegen gelungen war, die Abdrücke des mutmaßlichen Täters bis an den Rand Untertürkheims nachzuweisen. Dort verloren sich die Spuren im Bereich der Augsburger Straße, die die Weinberge zu den Industrieanlagen des Stuttgarter Vororts hin begrenzte.
Ob sich jemand zur fraglichen Zeit überhaupt auf seinem Grundstück aufgehalten hatte, war unbekannt; sie mussten es riskieren, ihre Tour von Haustür zu Haustür völlig umsonst zu unternehmen. Noch am späten Freitagabend hatte Söhnle zudem die lokale Presse und die regionalen Rundfunksender darum gebeten, die Bevölkerung nach jemandem zu befragen, der an diesem Nachmittag im Bereich des Mönchbergs gesehen worden war. Vielleicht führte eine zufällige Beobachtung auf die Spur des Unbekannten.
Gegen zehn Uhr suchte Braig die Apotheke in der Nähe des Bad Cannstatter Wilhelmsplatzes auf, in der Marion Böhler drei Tage pro Woche arbeitete. Der Inhaber, ein stattlicher, betont höflich auftretender Mann Mitte fünfzig, war bemüht, seine Angestellte in einem vorteilhaften Licht darzustellen.
»Frau Böhler gilt bei unseren Kunden als kompetente, freundliche Mitarbeiterin.«
»Das freut mich sehr«, charmierte Braig, wartete, bis der Mann eine Kundin bedient hatte. »Es gab in den letzten Jahren keinerlei Unregelmäßigkeiten oder Probleme in Bezug auf die Vollständigkeit Ihrer Bestände?«
Gerhard Venner schien das Anliegen des Kommissars nicht zu verstehen. Er schaute ihn fragend an, blieb jedoch ruhig.
»Ob nicht irgendwann Medikamente abhanden kamen, besonders heiklere Sorten?«
Ein neuer Kunde betrat den Raum. Steffen Braig trat zur Seite, wartete, bis der Mann bedient war. Erst als er den Laden wieder verlassen hatte, begann der Apotheker zu reden.
»Ich denke, Sie sind informiert.«
»Informiert? Worüber?«
»Der Einbruch.«
»Hier?«
Venner nickte. »Sie haben den Bericht darüber nicht gelesen?«
Braig musste zugeben, es versäumt zu haben. »Wann ist es passiert?«
»Vor dreieinhalb Jahren. Große Mengen an toxischen Stoffen wurden geraubt.«
»Etwa auch Zyanide?«
»Auch das, ja. Eine Woche vorher hatten wir die Bestände vieler Stoffe erneuert.«
»Die Sache wurde geklärt?«
»Leider nicht, nein. Und …« Venner stockte, starrte auf die Glasplatte seiner Theke, fuhr dann mit leiser Stimme fort. »Ob ich es Ihnen jetzt erzähle oder nicht, Sie werden es doch erfahren. Seither stehe ich bei Ihren
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