Schwaben-Angst
wie es mit der Zeit reicht.«
»Wenn Sie üben, sind Sie allein in der Kirche?«
»Anfangs, ja. Nach einer Weile kommen dann die ersten Gottesdienstbesucher.«
»Lange vor Beginn?«
»Vielleicht eine halbe Stunde, je nachdem. Einige wollen zuhören, die sind immer sehr früh dran.«
»Sie schließen also die Kirche nie ab, wenn Sie üben?«
»Sonntags nicht, nein. Ich weiß ja nicht, wann die ersten Leute kommen.«
»Und abends?«
Wolfgang Reck verstand, worauf Braig hinauswollte. »Meistens schon, ja. Es gibt keinen Grund, offen zu lassen. Und wenn ich spiele, höre ich nicht, was an der Tür los ist.«
»Die anderen Eingänge sind ebenfalls verschlossen?«
»Immer.«
»Dann bleibt die Frage, ob Herr Hemmer die Tür hinter sich abschloss oder nicht, wenn er samstagmittags übte.«
Reck antwortete sofort. »Ich glaube, er ließ offen. Als ich ihn neulich hier traf, hatte er jedenfalls nicht abgeschlossen.«
Braig nickte, hatte diese Aussage befürchtet. »Somit hatte jeder Zugang«, sagte er, »jeder.« Er blickte nach vorn, sah, dass Rössle und Hutzenlaub die Tastatur der Orgel untersuchten. »Gibt es Spuren einer Auseinandersetzung?« rief er laut nach vorne.
»Null«, antwortete Rössle, »hier isch alles in Ordnung, wenn ich das richtig sehe.«
»Sein Körper weist ebenfalls keine Spuren von Schlägen oder Ähnlichem auf«, meldete sich der Arzt, »aber ich will der Obduktion natürlich nicht vorgreifen.«
Braig spürte erste Schmerzen in seinem Kopf, massierte seine Schläfen. »Dann hat er seinen Mörder vielleicht gekannt.«
Er wusste, dass sie das Umfeld des Toten genau durchleuchten mussten, überlegte, ob es jetzt schon irgendeine Verbindung zu Marion Böhler in Rotenberg gäbe, die er bisher übersehen hatte. Wenn der Mord hier gestern am frühen Abend geschehen war …
Die Möglichkeit bestand, auf jeden Fall. Von Rotenberg nach Großaspach waren es etwa 35 bis 40 Kilometer, die Sache einer knappen Stunde. Gegen 16.30 Uhr hatte er Marion Böhler verlassen, früh genug, ihr den Besuch der Kirche hier am Abend noch zu ermöglichen. Er musste genau überprüfen, was sie am Abend und in der Nacht noch unternommen hatte. Wenn sie kein absolut wasserdichtes Alibi vorweisen konnte …
»Was ist mit meinen Noten?« Wolfgang Recks Frage riss ihn aus seinen Gedanken.
»Welche Noten?«
Der junge Mann deutete nach vorne. »Ich ließ sie vor Schreck fallen, als ich den Toten sah. Aus Angst, ich könnte irgendwelche Spuren verwischen, wagte ich mich nicht mehr daran.«
Braig folgte dem Mittelgang Richtung Orgel, sah das Winken Rössles.
»Die hier?« Der Techniker bewegte sich in gestelzten Schritten am Altar vorbei auf sie zu, hielt einen Packen Papiere samt dunkler Ledermappe in der Hand.
Wolfgang Reck nickte, nahm sie an sich.
»Die gehören alle Ihnen?«, fragte Braig.
Der Organist blätterte die Noten durch, ordnete sie Stück für Stück in einer von ihm selbst vorgegebenen Reihenfolge, nickte dann. »Das sind meine, ja.«
»Die lagen samt der Mappe neben der Kanzel auf dem Boden«, erklärte Hutzenlaub.
Braig sah zur Orgel hinüber, suchte das Instrument mit seinen Augen ab. Die Tastatur lag offen, der Deckel war hoch geklappt. Die Tasten glänzten weiß und schwarz, schienen sehr gut gepflegt. Auf dem Notenständer darüber lag ein dünner Stift. Links und rechts dahinter erhob sich der schmale Leib des Orgelvorbaus. Ihre Pfeifen ragten mit ihren Spitzen fast bis an die Decke des dem Gotteshaus angefügten Raumes hoch.
Braig spürte, dass etwas nicht stimmte. Irgendein Element störte ihn. Er überlegte, versuchte sich klarzumachen, wie es früher ausgesehen hatte, als er noch ab und an in die Kirche gegangen war. Der Organist oder vielmehr die Organistin mit dem Rücken zur Gemeinde, die offene Tastatur, der breite Notenständer, die aufgeklappten Noten …
Plötzlich war Braig klar, was ihn irritierte. Das Bild war nicht vollständig, wichtige Bestandteile fehlten. »Hemmer war in der Kirche, um auf der Orgel zu üben?«, fragte er, an den Organisten gewandt.
Wolfgang Reck nickte. »Das haben wir doch besprochen.«
»Spielte er aus dem Gedächtnis?« Er sah den fragenden Ausdruck im Gesicht des jungen Mannes, merkte, dass dieser das Problem nicht verstand. »Ich meine, wo sind seine Noten?«
Er schaute nochmals zur Orgel, überflog die Sitzbank, den Boden davor. Alles war leer, nirgendwo auch nur ein Blatt Papier.
»Des han i mi au scho gfragt«, brummte Rössle.
Reck
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