Schwaben-Angst
starrte verblüfft von einem zum andern, betrachtete die Orgel, die Sitzbank, den Boden, nickte mit dem Kopf. »Seltsam. Natürlich brauchte er Noten.«
»Sie haben sie nicht aus Versehen eingesteckt?« Braig deutete auf die Ledermappe.
»Hier?« Reck kramte alle Blätter wieder vor, sah sie langsam Stück für Stück durch, schüttelte dann den Kopf. »Nein, das sind alles meine eigenen. Wirklich. Sie glauben doch nicht etwa …«
»Nein, um Gottes willen, mir geht es um die Frage, wo Hemmers Noten sind. Wenn Sie sie nicht haben, wo sind sie dann?«
»Woher soll ich das wissen?«
»Ist es möglich, dass er gestern keine Noten brauchte, weil er nur auswendig gelernte Stücke spielen oder improvisieren wollte?«
»Das kann ich mir nicht vorstellen. Üben bedeutet fast immer neue Stücke einspielen, bestimmte Griffe trainieren. Ohne Noten geht das schlecht.«
»Vielleicht war er ein einzigartiges Genie, ein Naturtalent, und hatte das nicht nötig.«
Reck schüttelte energisch den Kopf. »Bei aller Hochachtung vor dem Mann, nein. Ich hörte ihn nur zwei- oder dreimal spielen, das erzählte ich Ihnen, da benutzte er Notenblätter, ganz normal, ich erinnere mich genau. Nein, das kann nicht sein.«
»Ihr habt alles untersucht?«, fragte Braig.
Rössle schaute sich hilflos um. »Vielleicht gibt es einen Platz, von dem mir nix wisset?«
Der junge Organist war sich sicher. »Hier nicht. Die Noten kommen auf den Ständer, auf die Bank oder auf den Boden daneben. Es gibt keine andere Ablage. Ich spiele seit drei Jahren hier.«
»Dann können wir davon ausgehen, dass irgendjemand die Noten Hemmers mitgenommen hat.« Braig spürte erneut Schmerzen, massierte seine Schläfen. »Der Mörder oder die Mörderin.«
Reck starrte ihn an, das Gesicht von Schreck gezeichnet. »Warum?«
»Wenn ich das wüsste, wäre der Fall vielleicht schon gelöst. Unter Umständen hatte sie oder er Angst, sie könnten etwas verraten, uns Hinweise geben.«
»Oder er hat ihn getötet, um die Blätter zu stehlen«, warf Hutzenlaub ein. »Gibt es Noten, die so wertvoll sind, dass sich ihretwegen ein Mord lohnen würde?«
»Originalhandschriften eines Künstlers vielleicht«, sagte Braig, »obwohl ich das für absurd halte. Der Mord steht im Zusammenhang mit dem von Rotenberg, daran gibt es für mich keinen Zweifel.«
»Aber wieso sollen die Noten den Mörder verraten? Was hat der damit zu tun?«
Braig schüttelte den Kopf, seufzte laut auf. Das Echo hallte durch die ganze Kirche. »Das überlegen wir später. Gibt es noch irgendetwas, das wir jetzt mit Herrn Reck besprechen sollten?«
Er sah das Nicken Rössles.
»Hier«, erklärte der Techniker und wies auf die Orgel, »Sie könnet mir noch helfe.« Er trug dünne Filzpantoffeln, versuchte, weiß markierte Flächen auf dem Boden zu umgehen. »Wenn Sie mir grade mal folget.« Rössle fasste den jungen Mann am Arm, zog ihn vorsichtig hinter sich her.
Braig folgte ihnen bis unmittelbar vor die Orgel, sah, wie der Techniker auf bestimmte Gegenstände deutete und Reck danach fragte, ob sie ihm bekannt vorkämen.
»Ist hier alles in Ordnung oder fällt irgendetwas aus dem Rahmen?«
Der Organist betrachtete alles der Reihe nach, überflog die Umgebung wieder und wieder mit seinem Blick, äußerte sich dann zufrieden. »Nein. Ich kann nicht erkennen, dass etwas geändert wurde.«
Braigs Handy läutete in dem Moment, als Rössle einen Tintenkuli in die Höhe hielt, der auf dem Notenständer lag. »Was ist damit?«, forschte er. »Liegt der immer hier?«
Reck schüttelte den Kopf. »Der gehört sicher Herrn Hemmer.«
»Wozu brauchte er den?«, fragte Braig. Sein Handy läutete noch immer.
»Wenn wir üben, machen wir oft Notizen, wie wir die Griffe spielen. Zeigefinger, Mittelfinger, Daumen und so. Deshalb haben wir immer einen Bleistift dabei.«
»Ihrer ist es nicht?«
»Nein. Den bringt normalerweise jeder selbst mit.«
Braig wandte sich ab, machte mit dem Handy ein paar Schritte von der Orgel weg.
Jürgen Hofmann, der Oberstaatsanwalt, war am Apparat. »Tut mir Leid, wenn ich Sie am Sonntagvormittag störe«. sagte er, »aber wie ich höre, sind Sie schon wieder im Einsatz.«
»Es ließ sich nicht vermeiden. Dasselbe Delikt wie am Freitagnachmittag«, antwortete Braig. Er hatte den Mittelgang neben der Kanzel erreicht, blieb stehen.
»Blausäure.«
»Genau.«
»Derselbe Täter?«
»Es ist noch zu früh für eine Antwort. Ersten Indizien nach aber ein vorsichtiges Ja. Wir haben
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