Schwaben-Angst
Adresse, den Beruf und die Zeiten, in denen der junge Mann seiner Tätigkeit als Organist nachging, ließ sich die Entdeckung des Toten genau beschreiben. Reck kam seinen Wünschen ausführlich nach.
»Sie haben Hemmer im ersten Moment also nicht erkannt?«, hakte Braig später nach.
»Als ich zum ersten Mal in der Kirche war? Nein. Ich war so erschrocken über den Anblick …« Er stockte, überlegte, wie er sich ausdrücken sollte. »Sie müssen sich vorstellen, ich dachte, die Kirche sei leer, irgendjemand habe vergessen abzuschließen, aber dann liegt da plötzlich dieser entstellte Körper …« Er schüttelte sich vor Abscheu.
»Ich verstehe. Wie gut kannten Sie Herrn Hemmer?«
Wolfgang Reck fuhr sich über seine linke Wange. »Nicht besonders. Ich meine, wir trafen uns zwei-, dreimal an der Orgel. Wenn ich samstags zum Üben kam. Mehr nicht.«
»Er spielte nur zum Spaß?«
»Nicht nur. Wenn Not am Mann war, sprang er auch mal ein, soweit ich weiß. Bei Beerdigungen oder Hochzeiten oder auch in den Ferien. Aber das kann ich Ihnen nicht genau sagen. Dazu kenne ich ihn zu wenig.«
Braig nickte, kam zu einem anderen Thema. »Die Tür war nicht abgeschlossen, sagten Sie. Aber Sie bemerkten es erst, als Sie den Schlüssel drehten, ja?«
»Ich konnte es vorher nicht feststellen, weil der Riegel des Schlosses von außen nicht zu sehen ist, klar?« Reck lief zum Portal, öffnete es, zeigte Braig die Metallschiene, die über die eine Türhälfte hinausragte.
Mehrere Gesichter starrten sogleich neugierig zu ihnen hin. Polizeiobermeister Busch zupfte den Kommissar an der Schulter. »Eine Kirchengemeinderätin möchte Sie sprechen. Sie fragt, ob der Gottesdienst …«
Braig schüttelte den Kopf. »Heute Morgen nicht. Die Techniker brauchen Zeit.« Er schob die Tür hinter sich zu, entzog sie allen weiteren Fragen.
»Herr Hemmer hatte einen eigenen Schlüssel für die Kirche?«
Wolfgang Reck wusste keine Antwort. »Das müssen Sie die Pfarrer fragen.«
Braig notierte sich die Frage, wurde vom Läuten des Handys unterbrochen. Er entschuldigte sich bei dem jungen Mann.
Katrin Neundorf war am Apparat. »Schöne Bescherung, was die uns da eingebrockt haben, was?«
»Du? Wer hat dich informiert?« Er drehte sich von dem jungen Mann weg, starrte zum Altar, wo Rössle und Hutzenlaub immer noch mit dem Boden beschäftigt waren.
»Weißhaar. Der war total in Panik. Beck und Stöhr zu einem brutalen Verkehrsunfall unterwegs, ein Lastwagen, der eine ganze Gruppe PKW samt Inhalt niederwalzte, Felsentretter auf Fortbildung und Söhnle ohne Reaktion. Du könntest unmöglich alles allein machen, meinte er. Damit war es um mein freies Wochenende geschehen.«
»Tut mir Leid für dich. Was soll das heißen, Söhnle ist ohne Reaktion? Weshalb ist er nicht hier?«
»Keine Ahnung. Er geht nicht an den Apparat, obwohl er Bereitschaft hat, meinte Weißhaar.«
»Nicht an den Apparat? Er war gestern unterwegs und am Freitag den kompletten Abend. Dann wurde ihm schlecht, ich forderte ihn auf, nach Hause zu gehen. Er sah übel aus.«
»Jetzt gibt er keine Antwort.«
Braig sah, wie Rössle sich aufrichtete und der Orgel zuwandte. Der Techniker tastete mit Plastikhandschuhen vorsichtig den Notenständer ab, hielt einen Stift in die Höhe.
»Das klingt nicht gut. Auf Bernhard ist Verlass.«
»Ich weiß. Aber das hilft uns im Moment nichts.«
»Wo bist du?«
»Unterwegs. Ich sprach eben mit der Pfarrerin und dem Pfarrer, einem Ehepaar, das die Stelle hier gemeinsam ausübt. Sie holten mich aus der Kirche, als ich gerade den Toten ansah. Jetzt suche ich die Messnerin. Anschließend komme ich. Du bist im Innenraum?«
»Ich unterhalte mich gerade mit dem Organisten, ja.«
»Das ist gut. Dann bis gleich.«
Braig beendete das Gespräch und überlegte: Söhnle reagierte nicht. Das klang nicht gut, in Anbetracht der bleichen Miene, die der Kriminalmeister gestern zur Schau getragen hatte. Auf Söhnle war Verlass, er konnte sich nicht erinnern, dass der Kollege seine Dienst-Wochenenden jemals verschlafen oder sonst wie versäumt hatte. Ob er doch zu einem Arzt gegangen war?
Braig musste alle Kraft zusammennehmen, um sich wieder auf Wolfgang Reck zu konzentrieren. Er drehte sich um, wandte sich dem jungen Mann zu. »Sie üben immer sonntags vor dem Gottesdienst?«
»Die Lieder, die gesungen werden, dazu die Einführung und den Schluss.«
»Nur sonntags?«
Reck schüttelte den Kopf. »Ein- oder zweimal die Woche abends, je nachdem,
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