Schwaben-Angst
zwar sofort die falsche Nummer, bestand aber darauf, seinen Gästen dennoch einen zu schenken – als ganz persönliches Präsent und Erinnerung an seine Feier sozusagen. Was der Vater dann auch erlaubte. ›Ich konnte meinem Sohn das an seinem zehnten Geburtstag doch nicht abschlagen‹, betonte er. Klingt plausibel, oder?«
Braig stimmte ihr zu, fragte nach den übrigen Stiften. »Er schickte wirklich alle anderen zurück?«
»Behauptet er jedenfalls, ja. Hätte er gewusst, welchen Ärger das Verschenken der Stifte auslöst, hätte er es natürlich nicht erlaubt, sagte er. Die Jungs machten sich offensichtlich einen Spaß daraus, die falsche Nummer anzurufen. Unzählige Male, bis sich einer verplapperte und von den Kulis erzählte. In dem Moment war der Teufel los. Müller, so heißt der Typ, dessen Nummer irrtümlicherweise aufgedruckt war, drohte Hoch mit einer Anzeige, woraufhin der die Eltern der Kinder verständigte und sie darum bat, die Anrufe zu unterbinden.«
»Was wohl aber nicht so ganz klappte, wenn ich an die Reaktion des Mannes bei deinem Anruf gestern denke.«
»Mag sein, ja. Auf jeden Fall ist Hoch im Moment dabei, die Kulis bei den Kindern der Reihe nach wieder einzusammeln. Wenn seine Behauptung stimmt, dass er nur diese fünf Stifte aus der Packung nahm, dürfte er vier wieder zurückkriegen. Und die Familie, die ihren Kugelschreiber nicht mehr finden kann, ist uns eine Erklärung schuldig.«
Braig pfiff laut durch die Zähne. »Wie kommt der Kuli von Leonberg nach Großaspach?«
»Genau. Das ist der Punkt.«
Er spürte, dass es wieder zu regnen begann, zog sich ins Treppenhaus zurück. »Wir dürfen uns aber nicht zu große Hoffnungen machen«, wandte er ein, »wenn wir Pech haben, beruht alles auf einem Zufall.«
»Ich weiß«, antwortete Neundorf, »ich kann mir eigentlich auch nicht vorstellen, dass der Mörder so dämlich gewesen sein soll, seinen Kuli in der Kirche liegen zu lassen. Andererseits: Wie viele Fälle haben wir allein deshalb gelöst, weil der Täter irgendeine Dummheit beging?«
Braig wusste, wie Recht sie hatte. »Sehr viele. Wir müssen diese Spur verfolgen, unbedingt. Du hältst mich auf dem Laufenden?«
Sie versprach es, beendete das Gespräch.
Braig schaute auf den Hof. Kleine Tropfen fielen vom Himmel, nicht mehr besonders zahlreich, kaum als Regen zu bezeichnen. Er blickte nach oben, sah, dass die Wolkendecke trotzdem dichter zu werden schien. Er löste die Verankerung des Papiercontainers, zog den Behälter zum überdachten Vorraum des Treppenhauses, brachte ihn dort zum Stehen.
Auf den Stufen waren laute Stimmen zu hören. Braig drehte sich um, sah die Teenies, die er aus Hemmers Warteraum kannte, schimpfend die Treppe herunterkommen. Sie blickten ihn verwundert an, stöckelten dann davon: Zerstörte Karriereträume, überlegte er, verflogene Illusionen. Offensichtlich waren sie von Nicole Lieb davon überzeugt worden, dass es heute keinen Vorstellungstermin bei Hemmer mehr geben würde – nie mehr!
Braig öffnete die Tonne, griff in den Papierberg, zog einen Packen beschrifteter Blätter und Zeitungen vor, prüfte sie Stück für Stück. Der Aufschrift nach handelte es sich größtenteils um Formulare eines Reisebüros, das sich auf Last-Minute-Touren in die Türkei und nach Ägypten spezialisiert hatte. Er konnte keinen Zusammenhang mit Hemmers Firma entdecken, warf die Blätter neben die Tonne. Zeitungen, Kataloge, alte Werbeschriften folgten. Braig überflog die Titel der Schreiben, legte sie auf den stetig wachsenden Abfallberg im Vorraum des Treppenhauses.
Plötzlich hatte er ein hellbraunes Kuvert in der Hand. Er sah, dass es außer einem kleinen, mit der gedruckten Aufschrift
Hemmer
versehenen Aufkleber völlig unbeschriftet war, untersuchte es von allen Seiten. Kein Poststempel, kein Absender, keine Notiz, nur der Name des Ermordeten.
Braig schloss die Tonne, nahm das Kuvert, eilte die Treppen hoch, läutete. Nicole Lieb öffnete die Tür, betrachtete den Umschlag, den er ihr entgegenstreckte.
»Kennen Sie dieses Kuvert?« Er wendete es vor ihren Augen hin und her, wollte es nicht aus der Hand geben.
Die junge Frau überlegte nicht lange. »Die Besetzungsliste. Von einem unserer Regisseure.«
»In diesem Umschlag?« Braigs Enttäuschung war nicht zu überhören. »Sind Sie sich sicher?«
»Aber ja. Das ist so üblich. Wir verwenden immer dieselben Muster, damit sie nicht verwechselt werden.«
»Und Sie benutzen keinen Absender?«
Nicole
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