Schwaben-Filz
Politiker, die die Interessen des Volkes und nicht die einzelner Lobbygruppen vertreten?«
»Nein«, antwortete Neundorf, »die müssen Sie mit der Lupe suchen.«
»Genau das ist unser Problem. Nur so ist zu erklären, dass ein gegen so viele Vorschriften verstoßendes Projekt wie
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realisiert werden soll.«
»Was meinen Sie konkret?«
»Das Gefälle der geplanten unterirdischen Station zum Beispiel. Bahnhöfe dürfen aus Sicherheitsgründen kein großes Gefälle aufweisen, maximal erlaubt sind 2,5 Promille. Es gibt in ganz Zentraleuropa, nicht einmal in der vom Hochgebirge geprägten Schweiz auch nur einen einzigen Bahnhof, der ein größeres Gefälle als 2,5 Promille aufweist.
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dagegen soll diese Grenze überschreiten. Aber nicht um 0,1 oder 0,2 Promille, wie Sie jetzt vielleicht glauben, auch nicht um 10, 20 oder 30 Prozent. Wissen Sie, um wie viel?« Hellner gab selbst die Antwort. »
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soll diesen vorgeschriebenen Grenzwert um 600 Prozent überschreiten. Um 600 Prozent, verstehen Sie? Der Bahnhof soll mit einem Gefälle von 15,0 Promille gebaut werden.«
»Aber der Gesetzgeber …«
»Richtig. Das Eisenbahnbundesamt, meine Frau ist dort als Abteilungsleiterin tätig, hat den Bau daher untersagt. Klarer Verstoß gegen die Vorschriften, die Sache ist eindeutig.« Er machte eine kurze Pause, holte tief Luft. »Nur, was kümmert das unsere Politiker? Die Anordnung des Amtes wird einfach außer Kraft gesetzt, es darf gebaut werden. Die Fachleute im Amt protestierten, aber die haben ihr Maul zu halten. Ist Ihnen klar, was das bedeutet? Nehmen Sie einen Autofahrer, der von der Polizei mit einer erhöhten Blutalkoholmenge ertappt wird. Maximal 0,8 Promille sind erlaubt. Bei diesem Fahrer aber werden nicht 0,9 oder 1,0 Promille festgestellt, sondern der sechsfache Wert des erlaubten Grenzwertes, also 4,8 Promille. Ob das biologisch möglich ist, kann ich nicht beurteilen. Was geschieht mit dem Mann? Der muss ins Gefängnis, sagen Sie?« Hellner riss seine Arme in die Höhe. »Aber nein! Sie haben seinen Freund vergessen, den Herrn im Verkehrsministerium. Der sorgt dafür, dass sein Kumpel straffrei ausgeht, so einfach ist das!«
Neundorf fuhr sich über die Haare, betrachtete ihren Gesprächspartner.
»Genauso verhält es sich mit der Fähigkeit des geplanten Tunnelbahnhofs, Anschlüsse von Zug zu Zug zu ermöglichen. Überall auf der Welt versuchen Verkehrsexperten die Strecken und Stationen so zu gestalten, dass prinzipiell Umsteigemöglichkeiten in alle Richtungen zur Verfügung stehen, um alle Orte schnell erreichen zu können. Nur hier in Stuttgart soll mit Milliardenaufwand ein untauglicher Mist verwirklicht werden, der genau dies nur in völlig unzureichendem Maß erlaubt. Kommt ein Zug an, ist der andere gerade weg. Geht nicht anders. Pech gehabt. Dabei bewältigt der bestehende Bahnhof all diese Anschlüsse auf hervorragende Weise. Eine bestens funktionierende Infrastruktur soll mit irrsinnigem Einsatz von Steuergeldern zerstört werden, um untauglichem Murks Platz zu machen. Sämtliche Bahnexperten, alle die Bahn fördernden Organisationen wie
Pro Bahn
oder der
Verkehrsclub Deutschland
warnen vor der Verwirklichung, Städte wie München und Frankfurt, die ähnliche Projekte planten, haben die katastrophalen Folgen für die Bahn erkannt und die Pläne verworfen. Nur hier bei uns regiert der Filz – schließlich will man seinen Freunden riesige Gewinne ermöglichen. Da nimmt man es sogar in Kauf, Verträge zu brechen und zu manipulieren.«
»Wovon sprechen Sie?«, fragte Neundorf.
»
Hat die Bahn bei den Kosten ehrlich gerechnet? Interne Dokumente legen nahe, dass der Konzern die Öffentlichkeit getäuscht hat
, schreibt das Nachrichtenmagazin
Der Spiegel
. Können Sie mir erklären, wieso Sie als Kriminalbeamtin nicht gegen die Verantwortlichen ermitteln? Oder der Staatsvertrag mit der Schweiz, in dem wir uns verpflichtet haben, die Bahnstrecke von Basel nach Karlsruhe mit zwei neuen Gleisen auszubauen, um die Güterzüge aufzunehmen, die ab 2016 durch den neuen Gotthard-Tunnel rollen.
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frisst die ganzen Gelder, die dafür nötig sind. Wissen Sie, welche zusätzliche LKW-Lawine deshalb bald auf die Leute im Rheintal zurollen wird? Wieso gehen Sie als Kriminalbeamtin nicht gegen die Politiker und die Manager vor, die den Menschen das zumuten? Sie stehen auf der falschen Seite, Frau Kommissarin, Sie schützen die, gegen die Sie tätig werden müssten!
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