Schwaben-Hass
Verbrecher war ihnen bisher erspart geblieben, überlegte er.
Sie liefen durch die Fußgängerzone, passierten den Torturm.
»Ich könnte mir vorstellen, dass es Frau Litsche zu gefährlich schien, das Material hier in Winnenden zu deponieren«, sagte er. »Das Treffen mit Harry Nuhr fand schließlich mitten in der Fußgängerzone statt – wenn sie sich verfolgt und beobachtet fühlte, musste sie an ein Versteck außerhalb der Stadt denken. Winnenden selbst war zu auffällig. Sie hatte ein Faible für alte Kirchen, erzählten Sie mir gestern. Den Ausführungen des Architekten nach steht die Nächste keine zehn S-Bahnminuten entfernt. Diese Stiftskirche in Backnang. Das war, denke ich, die Chance für Frau Litsche. Sie fuhr von Tübingen hierher, um sich mit Harry in Winnenden zu treffen. Weil sie um die Brisanz ihrer Recherchen wusste und die Verbrecher ihr im Fall einer Kontaktaufnahme mit der Presse schlimmste Konsequenzen angedroht hatten, wollte sie vor dem Gespräch eine weitere Diskette in Sicherheit bringen. Statt in Winnenden auszusteigen, blieb sie im Zug sitzen, machte einen kurzen Abstecher nach Backnang und versteckte dort das wertvolle Material. Das kostete sie keine Stunde, ließ sich also gut nebenbei erledigen. Wir werden die Diskette dort finden, ganz bestimmt.«
Michaela König warf ihm einen verzweifelten Blick zu. »Wie oft haben wir das gestern und heute schon gesagt?« Ihre Stimme klang nur noch resigniert.
Sie sah den Bärtigen in dem Moment, als sie in die Unterführung der Bundesstraße einbogen. Er stand am Rand der Fußgängerzone, musterte die Passanten, warf den Kopf zur Seite, als sich ihre Blicke kreuzten. Michaela König packte Weidmann am Arm, sprang die Treppen hinunter, rannte durch den schmalen, von Schaufenstern gesäumten Gang unter der Straße.
»Was ist los?«, rief der Journalist.
Sie gab keine Antwort, deutete nur hinter sich, nahm die Treppen im Sturm. Weidmann rannte ihr hinterher, keuchte die Stufen hoch, schnappte nach Luft. Als er oben angelangt war und sich umdrehte, sah er den Mann auf der anderen Seite der Bundesstraße stehen. Er erkannte ihn sofort, zu oft hatte sie ihm sein Aussehen beschrieben. Der Bärtige versuchte, die Straße zu überqueren, schaffte es bis zum Mittelstreifen, blieb dann mitten in der Autoflut stecken, winkte einem großen hageren Mann, ihm zu folgen. Michaela König spurtete die geradlinig verlaufende Kornbeckstraße entlang, geradewegs auf den Bahnhof zu. Weidmann hatte Mühe, mitzuhalten.
»Und was jetzt?«, keuchte er.
»Wir nehmen ein Taxi.«
Sie überquerten die Schmidgallstraße, passierten zwei große goldene Löwen am Eingang eines chinesischen Restaurants, erreichten den Bahnhofsvorplatz. In dem Moment, als sie die Schlange der wartenden Taxis bemerkten, fuhr ein Zug in den Bahnhof.
Michaela König besann sich nicht lange, rannte zu den Treppen, dann durch die Unterführung. Als sie den Bahnsteig erreichten, erteilte der Schaffner mit einem schrillen Pfeifen den Abfahrtsauftrag. Sie sprang an dem uniformierten Beamten vorbei in den Zug, ließ sich auf den nächstbesten Platz fallen, sah, wie Weidmann keuchend vor Anstrengung hinter ihr her torkelte. Er hatte noch nicht Platz genommen, als der Zug sich schon in Bewegung setzte.
»Und jetzt?«, hechelte er.
Sie brauchte einige Sekunden, bis sie wieder bei Kräften war. »Wir müssen weg«, presste sie, um Luft ringend, hervor, »die kennen keinen Spaß.«
Plötzlich hatte sie die nächtliche Szene wieder vor Augen: Der laut aufheulende Motor des Taxis, das mit quietschenden Reifen losrasende Auto. Das Fahrzeug streifte sie an der Seite. Sie flog ins Gras, sah im Fallen, wie der Mercedes nach vorne schoss und Verena Litsche und den Taxifahrer zu Boden warf. Der schrille, markerschütternde Schrei eines Menschen. Das schwere, holpernd über die beiden Körper hinwegrollende Fahrzeug, in die Dunkelheit tauchend und verschwindend. Sie selbst im Gras liegend mit brennenden, schmerzenden Armen und Beinen, ihr zitternder Körper, ihr Schock, ihre Angst.
Plötzlich die Stimme, wenige Meter von ihr entfernt. »Da liegen nur zwei auf der Straße, der Kerl und die eine Frau. Die andere ist nicht dabei. Komm sofort zurück, wir müssen sie finden.«
Der Bärtige, die Stimme des Bärtigen.
Michaela König sah wieder auf, starrte nach draußen auf einen Parkplatz, suchte ihn mit ihren Augen ab. Der Zug hatte den Bahnhof verlassen, gewann schnell an Fahrt. Er ratterte über eine
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