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Schwaben-Herbst

Schwaben-Herbst

Titel: Schwaben-Herbst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Wanninger
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verschleierten Augen zu ihrer Mutter auf. »Er ist, er ist …« Sie wurde von einem erneuten Heulkrampf überwältigt, verbarg ihr Gesicht in ihren Händen.
    »Sie hat ihn gefunden«, ergänzte die Kommissarin. »Vor der Haustür.«
    »Wie? Gefunden?«
    Neundorf verzichtete darauf, die Antwort auszusprechen, gab ihr Zeit, zu begreifen, nickte dann nur mit dem Kopf.
    »Vor der Haustür? Aber wieso …«
    »Andreas«, heulte Julia Gerber, »Andreas.« Sie wimmerte leise vor sich hin, barg ihren Kopf wieder an der Brust ihrer Mutter.
    Die Kommissarin sah das Entsetzen in der Miene der Frau. Jede Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen, pure Angst prägte ihre Züge.
    »Er ist, er ist …«
    »Irgendwann heute Nacht. Wir konnten nichts mehr tun.«
    »Aber wieso denn …«
    »Ich kann Ihnen nichts sagen. Wir wissen es nicht.« Sie schwieg einen Moment, ließ der Frau ein paar Sekunden, das Gehörte zu verarbeiten, fügte dann ein vorsichtiges: »Aber vielleicht können Sie mir helfen«, hinzu.
    Helga Gerber reagierte erst nach einer Weile. »Ich?« Sie schien am ganzen Leib zu zittern, hatte offensichtlich Mühe, zu begreifen. »Mein Gott, Andreas. Das kann doch nicht sein.«
    »Sie wissen, wo sich seine Eltern aufhalten? Zur Zeit, meine ich.«
    »Seine Eltern?« Die Frau schüttelte den Kopf, kramte in ihrer Tasche, zog eine angefangene Packung Zigaretten vor. Sie wiederholte die Prozedur, brachte ein Feuerzeug zum Vorschein, steckte sich eine Zigarette an. »Tut mir leid, ich hoffe, es stört Sie nicht. Ich bin jetzt darauf angewiesen, nach dem Schock.« Sie inhalierte tief, blies den Rauch dann, den Kopf zur Seite gewandt, langsam von sich.
    »Seine Eltern …«, wiederholte Neundorf.
    Helga Gerber nahm einen neuen Lungenzug, berichtigte dann, blaue Wolken ausstoßend, die Frage ihres Gegenübers. »Sein Vater. Er ist in Urlaub. Auf Mallorca. Julia hat seine Nummer.«
    »Herr Sattler lebt allein?«
    »Er hat eine neue Freundin. Eine neue Partnerin«, korrigierte sie sich.
    »Und die Mutter von Andreas? Sie kennen sie?«
    »Keine Ahnung. Sie lebt in Amerika. Mehr weiß ich nicht.«
    Neundorf nickte, wartete mehrere Sekunden, um der Frau Zeit zu geben, setzte dann zu ihrer nächsten Frage an. »Gibt es Geschwister?« Sie sah, dass man ihr nicht folgen konnte, verdeutlichte ihr Anliegen. »Andreas. Hat er Geschwister?«
    Helga Gerber schüttelte den Kopf. »Geschwister? Nein. Nicht dass ich wüsste.«
    »Andere Verwandte? Onkel, Tante, Oma, Opa?«
    »Onkel, Tante?«
    Neundorf sah deutlich, wie es in der Frau arbeitete.
    »Einen Onkel, glaube ich, ja.«
    »Wohnt der hier in Reutlingen?«
    »Ich weiß es nicht. So gut bin ich mit der Familie nicht vertraut. Das heißt …« Sie drehte den Kopf zur Seite, starrte an die Wand, überlegte.
    Neundorf folgte ihrem Blick, betrachtete das Foto, das dort hing. Ein jüngeres Ehepaar mit einem kleinen Kind, freundlich in die Kamera lächelnd. Sie glaubte, die Gesichtszüge der Frau zu erkennen.
    »Nein, ich weiß es nicht. Tut mir leid.«
    Die Kommissarin wartete, bis ihre Gesprächspartnerin eine graublaue Rauchwolke vollends von sich gegeben hatte. »Wie steht es mit Freunden?«, fragte sie dann. »Ich meine, junge Leute, mit denen Andreas und vielleicht auch Julia öfter zusammen sind?«
    »Lukas, ja.«
    »Wie heißt der mit Nachnamen?«
    »Lukas Feiner.« Sie nahm einen neuen Zug von der Zigarette, blies den Rauch zur Seite. »Sie spielen Schach. Julia, Andreas und Lukas.«
    »Andreas Sattler spielt Schach?«
    »Allerdings. Er ist ein Genie. Haben Sie ihn noch nie in der Zeitung gesehen?«
    Neundorf brauchte nicht lange zu überlegen. Das waren die Seiten, über die sie prinzipiell hinweg sah. »Er ist bekannt als Schachspieler?«
    »Und ob!« Helga Gerber reckte ihren Kopf in die Höhe. »Gerade vor zwei Monaten war er groß in der Zeitung. Sie haben es nicht gesehen?« Unüberhörbarer Stolz sprach aus ihrer Stimme.
    »Tut mir leid, nein. Sie haben diesen Artikel aber doch sicher aufbewahrt, oder?«
    Ihr Gegenüber löste sich ohne jedes Zögern aus den Armen ihrer Tochter, schnellte vom Sofa, kramte in einer Schublade der kirschbaumfarbenen Schrankwand. »Hier, da sehen Sie ihn.« Die Zigarette zwischen den Lippen, kehrte sie mit einem kleinen, sorgsam ausgeschnittenen Zeitungsartikel zurück, reichte ihn der Kommissarin. »Das ist Andreas«, erklärte sie stolz, hustete Rauch aus der Lunge.
    Neundorf betrachtete das bleiche Gesicht eines jungen Mannes, vermisste jede

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